Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Streit ist Teil der Demokratie“
Der Präsident des Landtags über die Verzehnfachung der Zahl der Ordnungsrufe, die Impfung für Parlamentarier und seine Pläne für 2021.
Herr Präsident, was war Ihr persönlicher Höhepunkt in einem an Tiefpunkten reichen Jahr?
KUPER Die Demokratie hat sich bewährt. Das Parlament war und ist funktionsfähig. Das Virus ist eine demokratische Zumutung. Natürlich haben auch wir Fehler gemacht und dazugelernt. Aber alle Staatsgewalten haben funktioniert: Die Gerichte überprüfen regelmäßig die Maßnahmen, die Exekutive hat viele gute und notwendige Entscheidungen getroffen. Und wir haben gesehen, dass Föderalismus auch Stärke bedeuten kann.
Hat aber nicht gerade in der zweiten Corona-Welle ein Umdenken stattgefunden? Zentralstaaten scheinen besser durch die Krise zu kommen als wir.
KUPER Ich glaube das nicht. Unser Gesundheitssystem ist immer noch eines der besten der Welt. Das liegt auch an der föderativen Struktur der Krankenhäuser. Kommunen stehen im Wettbewerb. Den Verantwortlichen vor Ort ist schon wichtig, dass bei ihnen die medizinischen Strukturen stimmen.
Das föderale System ist behäbiger.
KUPER Das stimmt, es kann aber zielgenauer steuern.
Und die Mehrheit der Bürger wünscht sich einheitliche Vorgaben für die Republik.
KUPER Ja. Aber das muss ja nicht sinnvoll sein. Wir haben völlig unterschiedliche Betroffenheit bei Inzidenzzahlen. Ich halte es für eine Stärke, dass wir eben nicht mit der Gießkanne über das ganze Bundesgebiet hinweggehen. Das lässt sich sogar noch weiter herunterbrechen: Ich komme aus dem Kreis Gütersloh. Als da das Land beim Corona-Ausbruch bei der Firma Tönnies kreisweite Regelungen gemacht hat, sind die wegen ihrer mangelnden Differenzierung gerichtlich beanstandet worden.
Differenzierung schön und gut. Aber das hindert doch nicht daran, einen klaren Rahmen vorzugeben, etwa eine nachvollziehbare Ampel.
KUPER Kein System in dieser Welt ist perfekt. Aber die Vorteile der föderalen Struktur überwiegen meines Erachtens.
Wie stark treibt es Sie um, dass jetzt die Länderchefs mit Ministerpräsidentenkonferenz und Verordnungen durchregieren?
KUPER Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive. Wöchentlich ändert sich die pandemische Lage. Das erfordert eine gewisse Geschwindigkeit. Aber natürlich müssen die Parlamente beteiligt werden. Da ist NRW von Beginn an sehr vorbildlich gewesen. Wir haben uns schon im April ein Pandemieartikelgesetz gegeben. Da sind parlamentarische Zustimmungsvorbehalte enthalten.
Zur Wahrheit gehört auch, dass das Parlament die Exekutive dazu erst zwingen musste.
KUPER Kein Gesetz geht so aus dem Parlament, wie es hineingegangen ist. Deshalb gab es einen Prozess, in dem man einen gemeinsamen Nenner – einen demokratischen Kompromiss – gefunden hat. Das Parlament hat seine Hausaufgaben gemacht.
Die Gesellschaft ist extrem polarisiert. Ist es für die Politik so schwer wie nie zuvor, den richtigen Ton zu treffen, um die Bürger ordentlich mitzunehmen?
KUPER Das ist so. Nehmen Sie als Beispiel das Schulsystem. Das braucht grundsätzlich Kontinuität. Jetzt ändert sich aber von Tag zu Tag die Situation. Und auch von Stadt zu Stadt. Das verträgt sich nicht gut und führt zu Komplikationen. Und zu einer Polarisierung der Gesellschaft.
Die Debatte ist aufgeheizt. Wir hatten den Parlamentssturm in Berlin. Rechte Youtuber sind über die Bundestagsflure gestreift und haben Abgeordnete angegangen. Wie sieht es im Landtag aus?
KUPER Wir hatten mit den Bergleuten sowie den Aktivisten von Extinction Rebellion einen Vorfall, die sich als normale Besuchergruppe getarnt eingeschlichen hatten. Es gibt deshalb seitdem eine namentliche Erfassung aller Besucher. Besuchergruppen müssen im Gebäude begleitet werden. Die Taschenkontrolle wurde verschärft.
Es hat seitdem keine Vorfälle mehr gegeben. Aber ausschließen können wir das nicht. Wir wollen ein offenes Haus bleiben. Das Thema Sicherheit kann und will ich nicht überstrapazieren.
Besuchergruppen sind zurzeit nicht zugelassen.
KUPER Wir haben seit Pandemiebeginn rund 50.000 Einladungen in den Landtag absagen müssen. Das ist mir sehr schwergefallen. Denn die Demokratie ist unter Druck. Und da ist mir der Kontakt zu jungen Menschen sehr wichtig. Wir wollen deshalb jetzt Anfang des Jahres mehr digitale Angebote machen. Das will ich Anfang des Jahres im Präsidium thematisieren.
Welche weiteren Debatten erwarten Sie im Frühjahr?
KUPER Anfang des Jahres läuft das Pandemiegesetz aus. Da steuern wir auf eine kontroverse Debatte zu. Im Raum steht die Frage, ob das, was im April gegolten hat, jetzt weiter uneingeschränkt gelten soll oder man da die Parlamentsbeteiligung auch nachschärfen muss.
Bislang gibt es einen Grundkonsens zu den Corona-Maßnahmen. Die Auseinandersetzung im Landtag spiegelt dieses Abstimmungsverhalten aber nicht wider.
KUPER Als Präsident des Landtags kommentiere ich nicht die Positionen der Fraktionen.
Wie beurteilen Sie denn die Qualität der Debattenkultur? Die Zahl der Beschimpfungen nimmt zu.
KUPER Wir sind bei fast 90 Rügen, also gelben Karten. In der vorletzten Wahlperiode waren es neun, in der letzten zwölf. Die AfD-Fraktion erhielt etwas mehr als die Hälfte der Rügen. Die größte Herausforderung der Nachkriegszeit spiegelt sich auch in den Redebeiträgen wider. Die Debatte ist emotionaler, hitziger. Das ist nur natürlich. Unsere Spielregeln hegen das ein. Wir, das sitzungsleitende Präsidium, sind die Schiedsrichter im Plenum.
Wie enttäuscht sind Sie denn persönlich von der Verzehnfachung der Zahl der Rügen?
KUPER Wenn man Parlamente in der Welt anschaut, gibt es andere Kaliber. Streit ist Teil der Demokratie und gehört ins Parlament. Rote Karten mussten wir nicht verteilen. Und ich hoffe, dass es dabei auch bleibt.
Eine Verschärfung der Spielregeln ist nicht nötig? Etwa ein Ordnungsgeld?
KUPER Nein. Das wurde mal diskutiert, als die Zahl der Rügen sprunghaft nach oben schnellte. Andere Länder wie das Saarland und auch der Bundestag haben so etwas. Noch benötigen wir es nicht. Ob es so bleibt, muss man sehen.
Wie groß ist die Gefahr, dass der Landtag zum Superspreader wird?
KUPER Wir versuchen das Risiko bestmöglich zu minimieren. Mehr als 1000 Menschen aus dem ganzen Land kommen an Plenartagen hier her. Wir könnten 1500 Menschen pro Woche testen. Derzeit nehmen das Angebot im Durchschnitt rund 300 Personen wahr. Und wir haben in jeder Testwoche positive Fälle. In allen Fraktionen gab es Covid-Fälle, soweit wir das wissen.
Trotzdem finden zehnstündige Plenardebatten statt.
KUPER Ich verstehe jeden, der das kritisch sieht. Aber gerade jetzt ist es doch wichtig, dass der Landtag Handlungsfähigkeit beweist. Mit Plexiglaswänden an den Plätzen, Abstandsvorgaben sowie der Einführung der Maskenpflicht haben wir das erreicht. Der Hygiene-Professor Exner hat bei einer Begehung Handlungsempfehlungen gegeben, die wir allesamt umgesetzt haben. Die Abgeordneten sind die Letzten, die von Bord gehen sollten.
Nach der Logik könnte man auch sagen, die Abgeordneten müssten die Ersten sein, die geimpft werden müssen.
KUPER Hochrisikopatienten, das medizinische Personal, Feuerwehrleute und Polizisten, Lehrer und Erzieher sollten weiter vorne in der Reihe stehen.
Wie steht’s um Bonuszahlungen an die Mitarbeiter?
KUPER Ist derzeit kein Thema bei uns. Das sieht der Tarifvertrag der Länder nicht vor.
Wie wohl fühlen Sie sich persönlich hinter dem Acrylglas?
KUPER Es ist ein notwendiges Übel, um sicher tagen zu können. Zwischenrufe sind allerdings nicht immer zu verstehen.