Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Dieser Film macht glücklich
Die Pixar-Produktion „Soul“erzählt von einem Jazzmusiker am Tag seines größten Erfolgs – und einer metaphysischen Reise.
Joe ist Euphoriker, Jazz-Euphoriker, um genau zu sein, das sind ja die Verzücktesten. Und wenn der Mittvierziger an seiner Mittelschule in Queens vor seinen Schülern sitzt und klavierspielend von dem Gefühl schwärmt, in der Improvisation zu versinken, von der Musik davongetragen zu werden, ihre Sprache zu sprechen und „in the groove“zu sein oder „in the zone“, wie man so sagt, schauen sie ihn mit großen Fragezeichen über ihren Köpfen an und verstehen nicht. „Aber Conny, du weißt doch, was ich meine?“, fragt er die Begabteste von ihnen mit der Verzweiflung des Entflammten, der auf das Feuer der Gemeinschaft hofft. Doch sie entgegnet kühl: „Ich bin zwölf.“
Von diesem Joe handelt also „Soul“, und das ist der allerherrlichste Film. Ihm gelingt, was man sonst nur im Konzert erlebt: dass man hineingezogen wird in seine Themen und Melodien, in den Flow dieser vom Computer errechneten Grafiken und Figuren, die so wirklich und menschlich anmuten, dass man ihnen folgt und sich von ihnen führen lässt in die Philosophie des guten Lebens, sogar in die Metaphysik bis hin zu den letzten Fragen. Denn auch darum geht es in dieser existenziell heiteren Produktion der Pixar-Studios: um den Tod. Als Joe nämlich die Chance seines Lebens bekommt, weil die berühmte Jazzerin Dorothea Williams ihn für ein Konzert bucht und er sich endlich am Ziel seiner Träume wähnt, hüpft er vor Freude über die Straße und fällt in einen Schacht. Das war’s.
Oder besser: Das wäre es gewesen, wenn der Film „Blues“hieße. Stattdessen begegnet der Zuschauer Joes Seele auf dem Stairway to Heaven wieder. Sie ist bläulich und durchscheinend wie alle anderen Seelen, denn Seelen kennen keine Hautfarbe,
und sie alle sind auf dem Weg ins ewige Licht des Jenseits. Aber Joes Seele will nicht, sie möchte zurück, sie büxt aus und flüchtet sich ins Davorseits. Da wird die Handlung so spleenig und irre und so wunderbar anders als all die anderen konfektionierten, didaktischen und normalen Animationsfilme, dass man gar nicht zu viel verraten möchte. Nur dieses noch: Joe muss sich als Seelenverwandter um Seele 22 kümmern, und wenn er diese Marshmallow-knautschige Wesenhaftigkeit vorbereitet auf ihre Materialisierung in einem Menschenkörper, bekommt er eine Chance auf die Fortsetzung seines irdischen Lebens. Das Problem: An Seele 22 haben sich schon die Mentoren Gandhi, George Orwell und Marie Antoinette die Zähne ausgebissen. „Mutter Teresa hat meinetwegen sogar geheult“, sagt sie.
Pete Docter, der Kreativ-Chef von Pixar, führt die Regie, und in seinen
Studios entstand bereits die grandiose „Toy Story“-Reihe, „Findet Nemo“, „Oben“, „Cars“und „Alles steht Kopf“, als dessen Cousin „Soul“durchgehen könnte. Zum ersten Mal ist nun ein Erwachsener die Hauptfigur, und so tief bohrte noch kein Film, der als animierter Familienfilm vermarktet wird.
Die kubistischen Figuren im Davorseits wirken wie von Picasso gezeichnet und von Alexander Calder in Bewegung gebracht. Terry, der Seelenzähler, der Joe auf die Schliche kommt, erinnert an das aus einer Linie geformte Männchen La Linea. Und großartig ist der Hippie, der als „Mystiker ohne Grenzen“auf einem Piratenschiff das Unterbewusstsein bereist. Für die fantastische Welt haben Atticus Ross und Trent Reznor einen Elektro-Soundtrack gebastelt, der wie zerebrales Pulsieren wirkt. Das Diesseits hingegen klingt nach den Pianosounds des Jazzers Jon Batiste.
Überhaupt das Diesseits. „Soul“ist ein New-York-Film, gelegentlich meint man, dass das doch von der Wirklichkeit bei natürlichem Licht abgefilmt sein muss, was man da sieht, so echt und prall und lebenssatt wirkt die Szenerie. Diese Stadt pulsiert, und wie vital dieser Film ist, zeigen allein schon die Szenen, in denen man Joes Händen beim Flug über die Klaviertasten zusieht. Sie spielen tatsächlich genau jene Noten, die man dazu hört, es ist großartig. Als Berater für den Film hat Pixar unter anderem Herbie Hancock gewonnen, der half, Jazz in Bilder zu übersetzen.
Das ist ein Jazz-Film im vordergründigen wie übertragenen Sinn. Die schönsten Stellen ergeben sich, wenn die Handlung abdriftet, wenn sich der Verlauf der Heldenreise von Konventionen löst und zu etwas Eigenem wird, zu einer Feier des Moments, in dem alle Fäden zusammenfinden. „Soul“ist ein Essay, eine Improvisation über ein Thema, und das lautet: der Sinn des Lebens.
Komisch, das Stück kommt im ganzen Film nicht vor. Aber nach dem Abspann hat man „What A Wonderful World“im Kopf.