Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Eine Schule des Sehens
Marcel Odenbach widmet sich im Kaiser-Wilhelm-Museum einem Bilderarchiv.
KREFELD (hm) Im Krefelder Kaiser Wilhelm-Museum wurde ein Schatz geboren: die „Lehr- und Vorbildersammlung des Kaiser Wilhelm Museums“, die der Museumsgründer Friedrich Deneken angelegt hatte. Sie lagerte in 255 Kartons unterm Dach und wurde von der stellvertretenden Museumsleiterin Sylvia Martin wiederentdeckt. Sie bat den Künstler Marcel Odenbach, sich mit diesem Teil der Museumsgeschichte zu beschäftigen, und Odenbach willigte ein.
Das ist umso erfreulicher, als der 67-Jährige alle Hände voll zu tun hat. Er ist seit 2010 Professor für Film und Video an der Kunstakademie Düsseldorf, bis Ende des Jahres auch Dekan, wird 2021 mit dem Wolfgang-Hahn-Preis geehrt und bekommt im Herbst 2021 eine Retrospektive in der Kunstsammlung NRW. Er gilt als einer der wichtigsten, interdisziplinär denkenden Intellektuellen und Künstler des 20. Jahrhunderts.
Deneken leitete das Krefelder Museum 1897 bis 1922 und engagierte sich für die lokalen Handwerker und Industriearbeiter. Sie sollen abends im Lesesaal studiert und kopiert haben. Die Mediensammlung der rund 4000 Vorlagen entstand zwischen 1900 und 1920, also vor dem Bilderatlas des berühmten Aby Warburg, den man gern als Vordenker der Bildwissenschaften nennt. Das interessiert Odenbach, der seit den 1970er-Jahren die Bildwelt der Gegenwart kritisch analysiert und in neuen Zusammenhängen collagiert. Er nennt seine Drei-Kanal-Videoprojektion „Verzettelungen“frei nach Warburgs Zettelsammlung und seinen eigenen Zeitungsausschnitten. Der Haupttitel: „Plötzlich konnte eins wie das andere sein“.
Der Künstler bekam von der Kuratorin 1000 Motive digital geliefert. Davon wählte er 129 aus. Ihn interessierten Menschenaufnahmen sowie Abbildungen zur Kunst und Ästhetik aus nichteuropäischen Ländern.
Der Besucher kann mit eigenen Augen jedes Bild hinterfragen. Der Künstler bietet ihm mit der Ausstellung eine Schule des Sehens. Wie selbstverständlich fängt er an, den politischen und kulturellen Kontext der Videosequenz zu hinterfragen.
Sylvia Martin, die ideale Partnerin des Künstlers, gibt der Ausstellung auch ein Forum im original erhaltenen Lesesaal. Odenbach hat alle 1000 ihm verfügbaren digitalen Fotos in Schwarzweiß abziehen lassen, um sie zu egalisieren. Nun kleben die Kopien wie eine Bildtapete an der Wand. Dasselbe Material liegt stapelweise in Kopien auf Tischen und darf benutzt werden – auf dass der Besucher sein eigenes Ordnungsprinzip erzeugt und auf visuelle Ähnlichkeiten achtet, um verwandtschaftliche Beziehungen zu finden.