Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Eisern Union nutzt die Nische
Die Berliner fühlen sich als Außenseiter in der Bundesliga-Spitzengruppe wohl. Sie haben sich ihr Image als Klub der kleinen Leute geschaffen und sich spielerisch zu einem unangenehmen Gegner entwickelt.
BERLIN Vor fünfzehn Jahren spielte Union Berlin in der vierten Liga. Bayern München begab sich mal wieder auf den einsamen Weg zur deutschen Meisterschaft, Platz zwei in der Bundesliga ging am Ende an Werder Bremen, der Hamburger SV wurde Dritter. Nach dem Jahreswechsel 2020/21 ist Union Berlin mit 24 Punkten Fünfter der Bundesliga, Bayern München ist (natürlich) wieder Erster. Werder Bremen schickt sich an, erneut in den Kampf um den Klassenerhalt zu geraten. Der Hamburger SV steckt seit zweieinhalb Jahren in der zweiten Liga fest. Und beim Außenseiter Union können sie ihr Glück kaum fassen.
Dabei ist es alles andere als Zufall, was den kleinen der beiden Hauptstadtklubs in die Europapokal-Ränge gespült hat. Kapitän Christoph Trimmel bemüht eine eher kämpferische Erklärung: „Wir haben den absoluten Willen. Den spürt man im ganzen Kader.“Das allein reicht aber nicht. Es kommt eine fußballerische Idee hinzu, die Trainer Urs Fischer (54) seit 2018 immer präziser umsetzt. Auf dem Feld herrscht Klarheit, jeder weiß, was er zu tun hat. Aus dem vergleichsweise schlichten „hinten zweimal quer und dann lang nach vorn auf mindestens zwei Meter große Angreifer“, mit dem der überraschende Aufstieg und Platz elf im vergangenen Jahr erreicht wurden, ist ein temperiertes Aufbauspiel und für die Gegner extrem anstrengendes Mittelfeldgewusel geworden. Die Räume sind perfekt besetzt, und die furchtbar schnellen Stürmer Sheraldo Becker und Taiwo Awoniyi sind wie gemalt für geradliniges Spiel in die Spitze.
Die meisten spielen deshalb nicht sehr gern gegen die Berliner. Das gilt auch für die Großen. Bayern schaffte wie Mönchengladbach nur ein 1:1, Borussia Dortmund verlor gar 1:2, weil der BVB in der Teamsitzung offenbar die Klasse der Unioner bei Standardsituationen nicht ausreichend besprochen hatte. Nicht einmal der Ausfall von Max Kruse hat die Berliner aus der Spur gebracht. Dabei wurde bundesweit mit ehrfürchtigem Staunen registriert, wie der fußballerische Feingeist Kruse das Kampf-Kollektiv aus Köpenick auf ein anderes Niveau gehoben hatte. Doch schon vor Kruses Muskelverletzung sagte der Mittelfeldspieler Robert Andrich: „Es geht nicht immer nur um Max Kruse. Alle sind wichtig.“
Ein wahres Wort, für das er selbst steht. Andrich gehört zur Schar derer, die an anderer Stelle wegen mangelnder Bundesliga-Tauglichkeit weggeschickt wurden und die nun in Köpenick eine sportliche Heimat gefunden haben. Beim großen Nachbarn Hertha war Andrich nicht gut genug, bei der Union hat er den eigenen Marktwert von rund 200.000 Euro auf satte vier Millionen Euro gesteigert – mit verlässlich-rustikalem Fußball.
Das gefällt den Fans, die es sich mit ihrem Klub in einer Nische des Profifußballs gemütlich gemacht haben. Union ist da nicht anders als der SC Freiburg oder der FC Augsburg,
die es aus gepflegter Außenseiterposition mit Fußballverstand und fröhlicher Underdog-Haltung gelegentlich in den internationalen Fußball geschafft haben und womöglich auch wieder schaffen werden.
Union pflegt das Image des Arbeitervereins aus dem Osten der Hauptstadt, eine Rolle, die im modernen Profizirkus noch nicht vergeben war. Dazu wird natürlich kräftig auf die Traditionstrommel gehauen. Der Anfeuerungsruf „Eisern Union“erinnert an die Entstehung des Vereins in einem Industriegebiet, auch wenn Köpenick selbst längst den Strukturwandel von der verarbeitenden Industrie in wissenschaftliche Dienstleistung bewältigt hat. Rocksängerin Nina Hagen singt die
Vereinshymne mit selbstverständlichem Bezug zum Osten („wir aus dem Osten geh’n immer nach vorn, Schulter an Schulter für Eisern Union“). Stolz verweist der Klub darauf, dass beim Stadionumbau zwischen 2008 und 2013 tausende Fans tatkräftig und zum Nulltarif halfen. Und ebenso stolz sind die Anhänger auf die Erfindung des gemeinsamen Weihnachtslieder-Singens im Stadion, das inzwischen vielfach kopiert wurde. Nirgends ist es so unverstellt wie in Köpenick, wo seit 17 Jahren bärtige Kuttenträger derart ergriffen „Stille Nacht“grölen, dass es selbst den braven Bürgern die Tränen in die Augen treibt.
Und dann der Ort dieses Schauspiels (außerhalb der Corona-Zeit): das Stadion an der Alten Försterei. Das klingt nach großen Portionen Wildschwein-Gulasch, nach dichten Wäldern und Lodenmantel – jedenfalls nach Folklore.
Das ist so gewollt wie das Ökound Studentenimage in Freiburg. Es sichert einen Platz für heimatliche Gefühle und für Vermarktung zugleich. Wiedererkennbar sind sie, die Köpenicker. In diesem Gefühl stellen sie ihre Wagenburg auf. Und es ist ihnen sicher recht, dass sie mit Zahlen die Rolle des Außenseiters im großen Geschäft unterstreichen können. Während im Bundesliga-Schnitt nach Berechnung des Internetportals „transfermarkt.de“jeder Klub im Jahr (vor Corona) etwa 81 Millionen Euro für sein Personal ausgibt, begnügen sich die Eisernen mit 25,8 Millionen. Die Mannschaft wird auf einen Marktwert von 60 Millionen Euro geschätzt, Branchenführer Bayern München auf 893 Millionen. Und ins kuschelige Stadion an der Alten Försterei passen gerade mal 22.000 Zuschauer. Kein Vergleich zu den hochmodernen, aber auch austauschbaren Arenen der Konkurrenz.
In so einer Idylle lebt es sich sehr angenehm. Das bedeutet allerdings nicht, dass da jemand die Füße hochlegen will. „Wir sind noch nicht am Limit“, sagt der Schweizer Trainer Fischer, „wir können noch Fortschritte erzielen und müssen das auch. Wir haben noch Luft nach oben.“Es klingt wie eine Warnung.