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Reifrock ’n’ Roll
„Bridgerton“auf Netflix versucht, Historie auf neue Weise zu erzählen. Hinter der Serie steht die Macherin von „Grey’s Anatomy“.
Lady Violet Bridgerton könnte die Ballsaison genießen. Die vermögende Witwe hat sieben wohlgeratene Kinder, ihre älteste Tochter Daphne ist die begehrteste Debütantin und gilt als Blüte der Londoner Society. Hochmögende Verehrer machen ihre Aufwartung, gute Partien mit älteren Adligen und jüngeren Gutsbesitzern sind zum Greifen nahe. Doch Daphne ist widerspenstig, sie hat ihren eigenen Kopf und bringt ihre Familie mit einem absurden Ansinnen zur Weißglut: Sie will nämlich jemanden heiraten, den sie liebt.
„Bridgerton“heißt die achtteilige Netflix-Serie, über die zurzeit alle reden. Sie erzählt nach der Romanvorlage von Julia Quinn (ein Pseudonym für Julie Pottinger) vom England der Regency-Epoche, genauer: vom höfischen Heiratsmarkt des Jahres 1813. In 68 Millionen Haushalten wurde die Produktion in den ersten vier Wochen geschaut, meldet Netflix. In 76 Ländern steht sie auf Platz eins der Charts. Rekord.
Die Serie hat einen starken Pop-Appeal. Reifrock ’n’ Roll. Bei den Bällen spielt das Vitamin String Quartet aktuelle Hits in Klassikversionen; „Bad Guy“von Billie Eilish etwa und „Thank U, Next“von Ariana Grande. Die Kostüme würden auch zum Karneval in Rio passen, die Dialoge sind schnell und pointiert, und die Farben wirken so stark gesättigt, dass man meint, der Monitor des PCs sei falsch eingestellt. Der Clou der Geschichte ist indes, dass sie aus dem Off von der rätselhaften und herrlich spöttischen Lady Whistledown erzählt wird. Sie weiß alles, behält nichts für sich und verteilt ihre Infos in einem Klatschblättchen, wodurch sie die Handlung oftmals entscheidend beeinflusst. Es ist, als hätte jemand „Gossip Girl“aus New York ins Mayfair des 19. Jahrhunderts verlegt.
Kern der Handlung ist das Abkommen, das Daphne (Phoebe Dynevor) und Simon Bassett (Regé-Jean Page), der Duke of Hastings, schließen: Sie täuschen der Gesellschaft eine Tändelei vor, ein starkes Gewogensein,
eine in der Luft liegende Verlobung. Das Kalkül: Daphne gewinnt Zeit, um „den Richtigen“zu finden. Und der Duke ist sicher vor den vielen Müttern, die ihre Töchter mit dem begehrten Junggesellen vermählen wollen. Der Duke hat nämlich einen Schwur geleistet: Weil er seinen Vater so hasste, will er keine Kinder zeugen, auf dass die Familienlinie mit ihm ende.
„Bridgerton“beginnt wie eine der vielen Epochenbilder, entwickelt sich aber rasch vom niedlichen Jane-Austen-Zitat zur Erwachsenen-Serie. Daphne wird von ihrer Mutter über alles Sexuelle im Unklaren gelassen. Die Tochter erfährt, dass das Wissen über Sex Macht bedeutet und dass diese Macht vor allem Männer ausüben. Ihre Figur entwickelt sich im Verlauf der Handlung am stärksten, sie besorgt sich das nötige Wissen, und in Folge sechs dreht sie die Verhältnisse einfach um. Es kommt zu einer in den sozialen Netzwerken heftig diskutierten Bettszene, in der Daphne nicht darauf hört, dass der Mann sie auffordert aufzuhören.
Die Serie ist das erste Produkt der vor drei Jahren beschlossenen Zusammenarbeit der TV-Produzentin Shonda Rhimes mit Netflix. Rhimes hat das Genre neu erfunden, ihre Serien „Grey’s Anatomy“und „Scandal“versuchen, Geschichten diverser und weiblicher zu erzählen. Auch „Bridgerton“schildert Sexualität aus dem Blickwinkel der Frau. Frauenkörper werden nicht ausgestellt, stattdessen blitzen Männerpos,
und in leidenschaftlichen Momenten, von denen es hier einige gibt, registriert die Kamera vor allem Körper und Gesicht des Mannes.
Außerdem sind viele Rollen mit Schauspielern dunkler Hautfarbe besetzt. Grundlage dafür sind Berichte von Historikern, die auf die portugiesischen Wurzeln der damals regierenden Königin Charlotte und auf ihren dunklen Teint hinweisen. Chris Van Dusen, der die Serie erfunden hat und bereits bei „Grey’s Anatomy“Assistent von
Shonda Rhimes war, wollte auf dieser Grundlage durchspielen, wie die Gesellschaft wohl ausgesehen hätte, wenn die Queen nicht nur weiße Menschen in den Adelstand erhoben und protegiert hätte.
Obwohl „Bridgerton“aktuelle Diskussionen in einer Handlung aus dem vorvergangenen Jahrhundert spiegelt, sollte man von der Produktion keinen Debattenbeitrag erwarten. Das ist eindeutig ein possenhaftes, mitunter parodistisches Produkt, das in erster Linie unterhalten will: Eskapismus statt Ernst. Die traditionelle Handlung ist lediglich modisch verpackt, und was das Ärgerlichste ist: Die schauspielerische Leistung passt oft nicht zu den Ambitionen der Serie. Vor allem die beiden Hauptdarsteller behaupten ihre Hingabe mehr, als sie sie zeigen. Es wirkt mitunter, als müssten sie erst einen Schalter umlegen, bevor sie übereinander herfallen.
Aus Daphne wird zwar keine Feministin. Aber sie wagt doch immerhin so viel Befreiung und Gleichberichtigung, wie es die Zeit zugelassen hat. Als Leitmotiv läuft denn in jeder Folge auch die Frage mit, wie Frauen in männlich dominierten Gesellschaften Macht erlangen können. Lady Whistledown gelingt das über das Wort. Anderen durch soziale Manipulation.
Und vielleicht ist das ja der Anfang. Vielleicht blicken wir künftig anders auf Sexszenen und auf die Zusammensetzung historischer Gesellschaften. Es würde aus einer unterhaltsamen Serie eine Pionierleistung machen.