Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Schneesüchtig
Ab in die Winterlandschaft, das erscheint gerade sehr reizvoll. Licht, Luft und Bewegung sind das Gegenteil von Lockdown. Doch was für den Einzelnen harmloses Vergnügen ist, wird wegen Corona in der Masse zur Gefahr.
Schnee verzaubert das Leben. Wenn er dick auf den Ästen hängt, Felder und Hügel unter weißen Polstern versteckt, ganze Wälder verzuckert, Lärm, Dreck und Alltag schluckt, wirkt die Wirklichkeit sanfter, unschuldiger, reiner. Schnee schafft eine neue Welt, eine stillere, in der Infiziertenzahlen und Coronaverordnungen, Trump-Hetze und Stürme auf die Demokratie weit weg scheinen. Wer hätte danach gerade keine Sehnsucht?
Auch biologisch tut Schnee dem Menschen gut, gerade jetzt, da die meisten ihren Alltag in ihren Wohnungen verbringen. Liegt Schnee, bekommt der Mensch zehn Mal mehr Licht als gewöhnlich, haben Biologen herausgefunden. Frisch gefallener Schnee reflektiert mehr sichtbares Licht als jede andere natürliche Oberfläche. Das ist gut, weil Licht Wirkung auf die einzelnen Zellen des menschlichen Körpers hat, auf die Hormonbildung, die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden. Licht signalisiert dem Menschen, dass Tag ist, dass er aktiv sein darf. Außerdem bieten Schneelandschaften über Nacht ein neues Szenario, und das stimuliert das Gehirn.
Es ist also nicht verwunderlich, wenn in diesen Tagen der Hunger nach Licht, Natur, Draußensein die Menschen in den Schnee lockt. Wie aus dem Nichts entstandene weiße Landschaften sind das absolute Gegenbild zum staubnüchternenTrott daheim. Und es lockt ja nicht nur der beschauliche Spaziergang unter kristallbeladenen Zweigen. Die Leute drängen ja vor allem in die Skigebiete und auf die Rodelhügel. Sport zu treiben im Schnee, Spaß zu haben auf einem Holzgestell mit Kufen, ist ein zusätzlicher Lockstoff. Vor allem für Familien. Kinder müssen nun schon seit Monaten ihren Bewegungsdrang zügeln, sollen still ihre Aufgaben machen, weil in der Küche nebenan gerade Homeoffice ist. Schneemänner bauen, mit ausgestreckten Armen Engel in das weiße Pulver zeichnen, wilde Schlachten anzetteln, sich einfach fallen lassen in dieses komische Medium, das alle verzaubert, ist ein großer Familienspaß. Und auf Brettern Berge hinabzusausen, sich der Beschleunigung auszuliefern, auch dem Kitzel, womöglich die Kontrolle zu verlieren, ist Adrenalinkick und Bewegung pur. Also das Gegenteil von Lockdown.
Gerade der Ausblick auf ein emotionales Erlebnis sei das Verlockende an der Fahrt in den Schnee, sagt der Soziologe Michael Baurmann, Direktor des Center for Advanced Internet Studies in Bochum. „Die Leute haben Kinder, die raus wollen. Sie sehen Schnee und Sonne und verbinden damit ausschließlich positive Gefühle. Und wenn Dinge Menschen emotional ansprechen, neigen sie dazu, rationale Überlegungen hinten anzustellen“, sagt Baurmann. Der kurzfristige Vorteil, endlich mal wieder die Natur zu genießen, überwiege dann längerfristige Überlegungen zu den Folgen, die der Tagestourismus für die Schneeregionen und vor allem für das Pandemiegeschehen hat. „Sieht man einen Kuchen vor sich, ist die spätere Gewichtszunahme ja auch nicht so präsent“, sagt Baurmann. Dieser Effekt sei bei derart positiv besetzen Erlebnissen wie der Schlittenfahrt noch stärker.
Der Soziologe glaubt nicht, dass der Tagestourismus ein stiller Protest gegen die Corona-Verordnungen ist. Allerdings findet er das Phänomen auch deswegen interessant, weil es ein generelles Problem mustergültig vorführt, ähnlich wie die Hamsterei von Toilettenpapier zu Beginn der Pandemie: den Widerspruch zwischen individuellem und kollektivem Interesse. Für den Einzelnen sei es keineswegs irrational, die Kinder ins Auto zu packen, in ein nahes Skigebiet zu fahren und sich an der frischen Luft zu amüsieren. „Dieses Verhalten, singulär betrachtet, verändert nichts an der Situation in der Pandemie“, sagt Baurmann. Darum könne sich der Einzelne sagen, er schade niemandem. Wenn sich aber alle so verhalten, werden die Wintersportregionen überlaufen, kommt es zu vielen Kontakten an den Rodelstrecken, Parkplätzen, Tankstellen. „Das Risiko, sich zu infizieren, ist für den Einzelnen gering“, sagt Baurmann, „wenn aber alle so denken und losfahren, kommt es in der Masse eben doch zu vielen Infektionen.“Das schlägt sich aber erst hinterher in den Statistiken nieder. Der Einzelne muss also von sich absehen, damit es dem Schwarm weiter gutgeht.
Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die vielen Ermahnungen bisher so wenig bewirkt haben. Es hilft nichts, nur an die Vernunft der Leute zu appellieren, denn es ist nicht unvernünftig, in den Schnee zu wollen. Vielmehr geht es darum, einmal mehr um Solidarität zu bitten. Es ist ein abstrakter Zusammenhang, aber wer seinen Schlitten im Schuppen lässt und mit den Kindern doch nur wieder in den Park um die Ecke spaziert, hilft den Menschen auf den Intensivstationen. Denn sein Verhalten entscheidet mit, ob sich die Intensivstationen weiter füllen.
Statt zu appellieren, kann man es allerdings auch machen wie Walter Stumpf, Leiter der alpinen Wandergruppe in der Sektion Duisburg des Deutschen Alpenvereins. Er tröstet die 170 Mitglieder seiner Gruppe nun schon seit Monaten mit Ausblicken auf die Zukunft. „Korfu, Dolomiten, Ammersee, wir haben dieses Jahr viel vor“, sagt Stumpf. Die großen Touren der vergangenen Monate hat er alle absagen müssen. Ausflüge in die Region schrumpften erst auf zehn, fünf, dann zwei Teilnehmer. Alpiner Gruppensport war das längst nicht mehr. „Natürlich vermissen wir alle die Bewegung und vor allem das Miteinander sehr“, sagt Stumpf. Darum könne er die Schneetouristen auch verstehen. Doch so lange die Corona-Lage ist, wie sie ist, verschickt Stumpf unermüdlich seine Mails mit Fotos vergangener Wandertouren und Plänen für die Zukunft. Nach Corona. Wenn Rodeln wieder ein harmloses Vergnügen sein wird.
Schnee macht die Wirklichkeit etwas sanfter