Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Eltern kommen nun mit Sorgen direkt zu mir“
Interview Statt Oberärztin im Krankenhaus nun eine eigene Praxis: Sukanya Thushyanthan hat sich als Kinderärztin selbstständig gemacht – mitten in der Pandemie. Kindesmisshandlungen wie bei den aktuellen Mönchengladbacher Fällen begegnen der Medizinerin i
Frau Thushyanthan, aus aktuellem Anlass: Wie haben Sie auf den jüngsten Vorfall von Kindesmisshandlung, bei dem ein fünf Wochen alter Säugling mutmaßlich vom eigenen Vater lebensgefährlich verletzt wurde, reagiert?
SUKANYA THUSHYANTHAN Erschüttert. Leider sind mir solche Fälle in meiner Laufbahn als Kinderärztin schon desöfteren begegnet. Ich bekomme trotzdem jedes Mal Gänsehaut und bin fassungslos.
Was kann dabei an Prävention geleistet werden – auch durch Kinderärzte?
THUSHYANTHANFür den niedergelassenen Kinderarzt ist eine Prävention bei so kleinen Säuglingen schwierig bis unmöglich. Wir sehen das Kind in der Praxis meist das erste Mal zur U3-Untersuchung. Die ist gewöhnlich nach vier bis sechs Lebenswochen, also genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Misshandlungen hier aufgefallen sind. Als niedergelassener Kinderarzt kann man den Eltern nur auf freiwilliger Basis Hilfen anbieten, um mit der neuen Situation zurechtzukommen, damit sie gar nicht erst in eine Überforderung gelangen.
Kommen wir auf Ihre erste eigene Praxis zu sprechen. Ende Januar ist die offizielle Eröffnung, ein paar Termine haben Sie aber schon vorab angeboten. Wie war der erste Tag?
THUSHYANTHAN Aufregend. Ich habe in der Nacht davor kaum geschlafen. Und die Aufregung hat bislang nicht nachgelassen, weil der offizielle Start ja erst noch kommt. Es ist in der Praxis auch noch einiges fertigzustellen, sodass ich neben den Patienten zurzeit auch noch genug anderes zu organisieren habe.
Sie waren zuvor Oberärztin in Neuwerk, wann haben Sie den Entschluss gefasst, eine eigene Praxis zu eröffnen?
THUSHYANTHAN Anfang 2020 wusste ich tatsächlich noch nicht, dass ich ein Jahr später eine eigene Praxis haben werde. Mein damaliger Chef aus der Kinderklinik Neuwerk, Markus Vogel, fragte mich, ob ich mir eine Praxis mit Anschluss ans Krankenhaus vorstellen könnte. In dem Modell wäre ich dann weiter angestellt gewesen. Das Krankenhaus hat sich dann auf zwei Sitze der Kassenärztlichen Vereinigung beworben (Anm. d. Red.: Ein KV-Sitz ist für einen Arzt die Zulassung, Kassenpatienten zu behandeln), die im Bereich Kinder- und Jugendmedizin in Mönchengladbach ausgeschrieben waren. Die Idee war ursprünglich, beide KV-Sitze in Neuwerk zu bekommen, um dort ein Medizinisches Versorgungszentrum für das Krankenhaus aufzubauen. Das konnte aber nicht umgesetzt werden. Dadurch habe ich mich aber erstmals mit der Selbständigkeit beschäftigt, die Idee dann für mich weiter verfolgt – und mich selbst beworben, mit dem Standort im Nordpark.
Wie sind Sie an die Räumlichkeiten im Nordpark gekommen?
THUSHYANTHAN Das war eher Zufall. Ich fand den Standort gut, da dort viele Neubaugebiete mit jungen Familien entstehen und es nur wenige Kinderärzte gibt. Und dann habe ich eine Anzeige gesehen, dass im Nordpark Praxisräume im Rohbau angeboten werden.
Das klingt alles sehr kurzfristig – und nach sehr viel Arbeit und Planung.
THUSHYANTHAN Es ist wirklich schnell gegangen. Erst Ende Juni wurde entschieden, wer die KV-Sitze in Mönchengladbach bekommt – und ich war eine der Glücklichen. Danach war es super viel Arbeit. Normalerweise kauft man einem Arzt eine Praxis ab und übernimmt dessen Bestand. Das gab es bei mir nicht, alles musste neu angeschafft werden – Geräte, Einrichtung, Medikamente, Sprechstundenbedarf. Ich habe während der Planung bis zum 25. Dezember sogar noch hundertprozentig im Krankenhaus weitergearbeitet. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie ich das alles geschafft habe. Es war aber auch aufregend, selber zu entscheiden, wie viele Untersuchungsräume ich möchte, wie ich mir das Labor vorstelle oder den Personalraum. Es war auch praktisch, eine behindertengerechte
Toilette einzubauen, da die Praxis ebenerdig ist. Ich kann sagen: Das ist wirklich meine Praxis, nach meinen Vorstellungen.
Welche Bedenken haben Sie bei der Entscheidung für eine eigene Praxis begleitet?
THUSHYANTHANMan geht in die Selbstständigkeit, nimmt einen Kredit auf, trägt das finanzielle Risiko, hat aber dafür die Möglichkeit, sich etwas Eigenes aufzubauen. Das Risiko ist das gleiche wie bei jeder Geschäftseröffnung. Als angestellte Oberärztin hatte ich mein festes Einkommen und finanzielle Sicherheit. Jetzt trage ich neben der Verantwortung für mein eigenes Auskommen auch die Verantwortung für meine Angestellten.
Was glauben Sie, was wird anders sein in der eigenen Praxis?
THUSHYANTHAN Im Krankenhaus weiß ich, wie es läuft, der Alltag in der Praxis ist nun neu für mich. Obwohl die Medizin ja die Gleiche bleibt. Aber ich habe nun Patienten, die immer wieder kommen und die ich über Jahrzehnte begleiten werde. Das ist eine ganz andere Bindung zu Patienten und Familien, viel persönlicher. Im Krankenhaus sehe ich die kleinen Patienten häufig ja nur in den ersten Wochen ihres Lebens. Nun kommen die Eltern mit ihren Sorgen direkt zu mir. Ich kann viel mehr Engagement und Zeit für jeden einzelnen Patienten aufwenden als im Krankenhaus.
Was ändert sich in Ihrer Arbeit?
THUSHYANTHAN Im Krankenhaus hatte ich ein ganzes Ärzte-Team um mich herum. Daher sind die Diagnosen häufig gemeinsam diskutiert und erarbeitet worden. Jetzt bin ich die derzeit einzige Ärztin in meiner Praxis, der Austausch erfolgt mit meinen Mitarbeiterinnen. Damit steigt die Verantwortung. Dafür bin ich in meiner Praxis nun nicht nur Ärztin, sondern aufgrund der langen Bindung auch Ansprechpartnerin für die Eltern bei Sorgen. Mein Ziel war es immer, gute Medizin anzubieten, und diesem Anspruch möchte ich auch in meiner eigenen Praxis weiter gerecht werden.
Mit der Praxis sind Sie nicht nur mehr Medizinerin, sondern auch als Unternehmerin, Führungskraft und Expertin für Finanzen gefordert. Wie gehen Sie das an?
THUSHYANTHAN Schritt für Schritt. Ich muss in die Rollen hineinwachsen. Führungskraft war ich als Oberärztin schon und habe da ein Team geleitet. Die übrigen Anforderungen werde ich mit meinem Praxisteam angehen. Da habe ich noch viel zu lernen.
Wie haben Sie sich auf die neuen Rollen vorbereitet?
THUSHYANTHAN Im Medizin-Studium wird die wirtschaftliche Seite einer Praxis nicht thematisiert. Ich habe im Vorfeld daher einige Fortbildungen besucht und mir vieles häppchenweise angeeignet. Rezepte, die ganzen Papiere und Formulare, das sind so Kleinigkeiten, die im
Krankenhaus zum Beispiel einfach da sind. Nun muss man sich selbst darum kümmern. Auch für Themen wie IT, Abrechnung, Hygienestandards und Arbeitssicherheit habe ich mir Beratung geholt. Die Kassenärztliche Vereinigung hat mir dabei geholfen. Zudem habe ich nette Kollegen kennengelernt, die mir Unterstützung angeboten haben. Darüber bin ich sehr froh.
Ihre Eröffnung fällt nun mit der Corona-Pandemie zusammen, inwiefern hat das die Vorbereitung beeinflusst? Haben Sie Sorge, dass die Patienten zunächst ausbleiben?
THUSHYANTHAN Ja, die Sorge habe ich. Eine Kollegin hat mir bereits gesagt, ich soll nicht so enttäuscht sein, wenn sich anfangs nicht so viele Patienten melden. Corona habe ich aber auch dadurch gemerkt, dass ich die Praxis nicht wie geplant Anfang Januar eröffnen konnte. Viele Einrichtungsgegenstände, die ich bestellt habe, konnten immer noch nicht geliefert werden.
Wie kommt man überhaupt an einen ausreichenden Patientenstamm mit einer neuen Praxis?
THUSHYANTHAN Ich hatte eigentlich gehofft, eine Eröffnungsfeier zu machen – die muss leider coronabedingt verschoben werden. Da ich als Ärztin keine Werbung machen darf, müssen die Eltern auf anderen Wegen von meiner Praxis erfahren. Ich bin auf Mundpropaganda angewiesen. Außerdem bin ich bei Onlineportalen, auf denen man nach Ärzten suchen kann, vertreten.
Wie ist Mönchengladbach allgemein bei Kinderärzten aufgestellt?
THUSHYANTHAN In Mönchengladbach hat die Kassenärztliche Vereinigung festgestellt, dass die Praxen der Kinderärzte überfüllt sind und sie eigentlich keine neuen Patienten mehr annehmen können. Deshalb wurden ja zwei neue Sitze freigegeben – das passiert nicht so häufig. Daher habe ich auch die Hoffnung, dass es sich von den Patienten her gut verteilt.
DANIEL BRICKWEDDE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.