Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Nordische Verteidigung
Die aggressive russische Außenpolitik hat in Skandinavien eine Neuorientierung ausgelöst. Ein Nato-Beitritt des eigentlich neutralen Schweden ist vorstellbar geworden. Aber auch ältere Bündnisideen tauchen wieder auf.
Die Umfragen machen Druck. Unlängst sprachen sich nach einer Erhebung der Zeitung „Aftonbladet“46 Prozent der Schweden für eine Nato-Mitgliedschaft ihres Landes aus. Das sind knapp zehn Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren. Kein Wunder also, dass ein Beitritt zur Militärallianz Anfang dieser Woche auch auf der alljährlichen Konferenz „Volk und Verteidigung“diskutiert wurde.
Dass Premierminister Stefan Löfven für die digital stattfindende Gesprächsrunde abgesagt hatte, zeigt, wie sehr die regierenden Sozialdemokraten beim Thema Verteidigung in die Defensive geraten sind. Ausgerechnet die rechtspopulistischen Schwedendemokraten haben die Debatte angestoßen. Die Partei, die sonst gegen internationale Bündnisse eintritt, sprach sich im Dezember für eine „Nato-Option“aus. Das bedeutet nicht die volle Mitgliedschaft, sondern eine Bereitschaft der Politik, eine Mitgliedschaft anzustreben, sollte die Sicherheitslage sich verschlechtern. Nun haben die Parteien, die für „Nato-Option“oder Vollmitgliedschaft sind, die Mehrheit im schwedischen Reichstag.
„Schweden liegt mitten in einer Region, die sicherheitspolitisch angespannt ist. Unsere Allianzfreiheit ist wichtig, um die Spannungen auf kontrolliertem Niveau zu halten“, sagt Kenneth G. Forslund, der außenpolitische Sprecher der Sozialdemokraten. Zudem sei die Langfristigkeit der Neutralität „ein wichtiger Beitrag zur Entspannung“.
Angenähert hat man sich aber längst an das Nordatlantikbündnis. Durch die Ukraine-Krise 2014 und angesichts russischer Verletzungen des Luftraums setzen Schweden und Finnland mittlerweile auf eine Kooperation mit der Nato und beteiligten sich an Manövern. Schweden führte 2017 die Wehrpflicht wieder ein und stationierte auf Gotland wieder Soldaten. Die größte Insel des Landes ist von strategischem Interesse – sollte sie bei einem russischen Angriff auf die baltischen Nato-Staaten ebenfalls von Russland besetzt werden, hätten Bündnistruppen wenig Chancen, das Baltikum zurückzuerobern. Entscheidend ist hier, dass die Regierung in Stockholm Nato-Truppen erlaubt, im Krisenfall schwedisches Territorium zu nutzen. Zudem soll der Verteidigungshaushalt bis 2025 von umgerechnet sechs auf 8,5 Milliarden Euro steigen.
Die Befürworter einer Nato-Mitgliedschaft, etwa die bürgerlichen Moderaten, die größte Oppositionspartei, sehen deshalb die Neutralität längst als obsolet – Russland sehe Schweden und Finnland durch die Kooperation schon als Teil des Westens und werde im Konfliktfall entsprechend reagieren, was „Konsequenzaggression“genannt wird. Einen echten Beistand der Nato, die offen um eine schwedische Mitgliedschaft wirbt, gebe es deshalb nur mittels Beitritt.
Mit Nato oder ohne – Schweden ist für den Kreml eine harte Nuss. Denn in Stockholm gibt es keine wirklich russlandfreundlichen Parteien, über die man Einfluss auf die Innenpolitik nehmen könnte. Auch die Schwedendemokraten halten eher auf Abstand; vor zwei Jahren landete eine prorussische Ausgründung mit dem Namen „Alternative für Schweden“umgehend in der politischen Bedeutungslosigkeit.
Grund dafür ist die in der Geschichte begründete „Rysskräck“, die „Russenangst“der Schweden, die gerne mal aktiviert wird, wenn ein unbekanntes U-Boot vor der Küste aufkreuzt. Im Kampf um die Vorherrschaft über den Ostseeraum zählen Historiker 33 kriegerische Auseinandersetzungen Schwedens mit Russland; im 18. Jahrhundert verlor Schweden seine Hegemonie an das Zarenreich. Seit den Napoleonischen Kriegen setzt man in Stockholm auf eine Neutralität, die offene wie verdeckte Sicherheitskooperationen mit westlichen Staaten nicht ausschließt.
Schweden also ist für Russland das Problem in Skandinavien. Bezeichnenderweise sprach Präsident Wladimir Putin davon, dass die Nato (zu der Norwegen gehört) und Schweden die russische Sicherheit bedrohten; Finnland erwähnte er nicht. Denn zur finnischen Außen- und Sicherheitspolitik gehöre neben der Kooperation mit der Nato stets ein gutes Verhältnis zu Russland, fasst Markku Kangaspuro, Politologe und Russland-Experte an der Universität Helsinki, zusammen.
In Finnland, das eine lange Grenze mit Russland hat, sind gerade mal 20 Prozent der Bevölkerung für eine Nato-Mitgliedschaft. Auf der anderen Seite hat sich bereits die Vorgängerregierung der derzeit regierenden Sozialdemokraten für die „Nato-Option“entschieden. Das setzt wiederum die Regierung in Stockholm unter Druck, weil man dort die gemeinsame Linie in der Verteidigungspolitik so gern betont.
Denn die von den schwedischen Sozialdemokraten betonte „Allianzfreiheit“ist nicht auf die anderen skandinavischen Länder bezogen, im Gegenteil: Das gescheiterte Großprojekt des von 1946 bis 1969 regierenden Sozialdemokraten Tage Erlander war ein skandinavisches Verteidigungsbündnis. Selbst Norwegen, Gründungsmitglied der Nato, sieht das Bündnis nicht mehr als einzige Option – US-Präsident Donald Trump ließ Truppen aus Nordnorwegen abziehen. Begründet wurde das mit dem aus der deutschen Diskussion bekannten Vorwurf, Oslo habe nicht genug für die Verteidigung ausgegeben. Die Verteidigungsminister Norwegens, Schwedens und Finnlands unterschrieben darum 2020 ein Abkommen zur „verstärkten militärisch-operativen Zusammenarbeit“, sollte Russland Nordskandinavien angreifen.
Der designierte US-Präsident Joe Biden, der Europa versprochen hat, „die historischen Partnerschaften wiederherzustellen“, dürfte berechenbarer auftreten als sein Vorgänger Trump. Doch in Skandinavien muss auch er viel Vertrauen aufbauen.
Besonders Stockholm erweist sich für den Kreml als schwieriger Fall