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Der 94-jährige Martin Walser erzählt, warum ihm Fantasie das Wichtigste auf der Welt ist.
DÜSSELDORF
Zu seinem 94. Geburtstag ist dieses Buch erschienen, und wer Martin Walser kennt, ahnt, dass er so etwas nicht so sehr als ein Geschenk oder dergleichen sieht, sondern als weitere literarische Notwendigkeit. Walser gehört zu den bekanntesten und nach wie vor produktivsten deutschen Schriftstellern: ein Erzähler mit langem Atem, ein feinsinniger Dichter von Aphorismen, ein Stücke- und Hörspielautor, ein Essayist – und natürlich auch ein Provokateur, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Spätestens seit seiner ebenso berühmten wie berüchtigten Paulskirchenrede 1998, in der er vor der Instrumentalisierung des Holocaust warnte und solche Versuche als eine „Moralkeule“empfand. Nun ist „Sprachlaub“erschienen, ein kleiner Band mit sehr lesenswerten, bedenkenswerten Versen über ihn und sein Empfinden, seine Gedanken über das Alter, über das Leben und sein Aufbegehren gegen den Tod.
Herr Walser, eine Frage, die sich eigentlich fast jedem stellt: Wie haben Sie das zurückliegende Corona-Jahr verbracht?
MARTIN WALSER
Ich habe keinerlei Berührung mit der gefährlichen Corona-Welt. Ich bin immer für mich. Und so erfahre ich alles nur aus den Nachrichten, aber nichts am eigenen Leibe. Ich verspüre keinen Grund, Kontakt zu haben.
In Ihrem neuen Gedichtband heißt es: „Ich stehe mit dem Rücken zur Gegenwart“. Vieles liest sich aber wie Zustandsbeschreibungen der Jetztzeit. Alles scheint mir in ihrem Buch sehr gegenwärtig zu sein, selten riskieren Sie einen Blick zurück.
WALSER
Ja, das stimmt. Das ganze Buch ist in diesem Sinne Präsens. Nirgends ist das Vergangene zu finden wie in einem Roman und einer Erzählung. Es sind alles unmittelbare Gegenwartsempfindungen.
Sie seien ein Weltmeister als durch nichts anderes als durch Einbildungskraft, schreiben Sie. Darin ruht auch ein Impuls der Romantik, die Welt mittels Fantasie neu zu schaffen und zu erkennen.
WALSER
Na gut, wenn Sie das so sehen. Da widerspreche ich lieber nicht.
Weil die Fantasie für Sie…
WALSER
…für mich ist Fantasie das Ein und Alles. Ich existiere nur, wenn ich mich ausdrücke und etwas zur Sprache bringe, was mich im Augenblick bewegt. Das ist Existenz pur. Es gibt für mich nichts Aktuelleres als diese Sprachnotwendigkeit. Ich bin kein Maler, kein Ingenieur und nicht einmal ein Musiker. Wissen Sie, ich lebe davon, dass mir – ganz trivial gesprochen – etwas einfällt. Und da ich inzwischen, das darf ich sagen, darin natürlich zum Fachmann geworden bin, kann ich beurteilen, ob das, was mir einfällt, gut ist oder eben nicht, ob es mich wirklich ausdrückt oder ob ich unzufrieden sein muss. Und was Sie mit „Sprachlaub“in Ihren Händen halten, sind eben nur gelungene Ausdrucksmomente. Und all die Spracheinfälle, mit denen ich nicht zufrieden sein kann, werden Sie von mir auch nicht zu lesen bekommen.
Gibt es Augenblicke und Zeiten des Tages, die für Ihre Spracheinfälle und Gedanken besonders günstig sind? Oder sind es unverhoffte Begleiter über den ganzen Tag hinweg?
WALSER
Da ist alles möglich. Meine wichtigste Zeit ist wahrscheinlich doch der spätere Nachmittag, an dem wir jetzt ja auch miteinander sprechen.
Kann mit Sprache auch Angst überwunden werden? Etwa die vor dem Tod? Ich muss da an die Erzählerin aus Tausendundeine Nacht denken und ihre Weisheit: Solange wir erzählen, leben wir.
WALSER
Ja, so ist es. Ich habe kein anderes Daseinserlebnis als die Sprache. Ich nehme natürlich daran Anteil, was in der Welt passiert. Ich bin ein unschuldiger Konsument von Nachrichten, aber ich lass' mich davon nicht irritieren. Meine Sprachmomente sind unantastbar von der bloßen politischen Aktualität. Es kommt in meinen Versen auch nichts Gesellschaftskritisches
vor; das ist einfach vorbei. Für mich ist wichtiger, was im Untertitel steht: Was wahr ist, ist schön. Was also wahr ist, muss meine Sprache beweisen. Mein Einfall muss jeweils so sein, dass nichts anderes denkbar ist als die gerade jetzt passierende Formulierung. Die Sprache entscheidet, was wahr ist.
Ein Motiv, dass sich durch viele Ihrer neuen Gedichte zieht, ist der Tod. Mit der Möglichkeit des Sterbens scheinen Sie aber zu kokettieren – etwa mit dem Vers: An meinen Tod zu denken, dazu komme ich nicht…
WALSER
Die deutlichste Überwindung von Tod und Sterben ist das Schreiben. In dem Augenblick, in dem ich schreibe, bin ich unsterblich.
In manchen Gedichten, die Naturmetaphern aufgreifen, fühlte ich mich an die Lyrik von Günter Eich erinnert.
WALSER
Wenn Sie Günter Eich nennen, seh ich ihn vor mir: die leibhaftige Melancholie. Ich dagegen: ,Existenz pur`. Und: ,Weltmeister will ich sein durch nichts als Einbildungskraft.` Also ein Naturlyriker bin ich nicht. Existenz pur, das bin ich. Und: ,Ich bin bedacht und will bis zum letzten Abend leben.` Das wärs.