Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Viren gegen Bakterien
Eines der größten Probleme der Medizin sind Keime, gegen die Antibiotika resistent sind. Hoffnung setzt die Fachwelt auf Bakteriophagen. Leider mangelt es an Studien. Verzweifelte Patienten suchen Hilfe in Georgien.
BRAUNSCHWEIG Peter Emsfeld aus Willich hat ein gesundheitliches Problem, das sich hierzulande offenbar nicht lösen lässt. Er befindet sich deswegen in einem zermürbenden Krieg mit seiner Krankenkasse. Von seiner Seite hat die Korrespondenz an Dynamik ordentlich gewonnen, er möchte nämlich, dass die Kasse ihm eine Behandlung in Tiflis im fernen Georgien bezahlt. Das lehnt sie ab. Ein schwebendes Verfahren, weswegen Herr Emsfeld gebeten hat, dass wir seinen Namen verändern, er fürchtet sonst den Unmut seiner Kasse.
Was aber will Herr Emsfeld in Tiflis? Er leidet an einer Infektion mit einem multiresistenten Keim, bei dem kein Antibiotikum mehr wirkt, und will dort zu Ärzten und Wissenschaftlern gehen, die viel Erfahrung mit seiner Krankheit haben und pragmatisch, aber mit einem alternativen, gleichwohl effektiven Ansatz handeln. Hierzulande, so sagt er, traue sich niemand etwas. Angeblich sei die Behandlung, die in Tiflis seit Jahrzehnten durchgeführt wird, hier noch nicht zugelassen.
Sobald unter Infektiologen und Biologen der Ortsname Tiflis fällt, wird mancher wehmütig oder sogar ärgerlich. Dort gibt es seit knapp 100 Jahren das Georgi-Eliava-Institut für Bakteriophagenforschung. Bakteriophagen waren Stalins Antwort auf die Antibiotika des Westens. Phagen sind spezielle Viren, die auf Bakterien als Wirtszellen spezialisiert sind. Sie dringen in diese Zellen ein, vermehren sich und lösen sie auf. Das ist mitnichten dem Zufall überlassen, im Gegenteil: Je genauer der Keim identifiziert ist, desto besser wirken die Phagen. Das Wort kommt aus dem Griechischen (phagein = fressen).
Professor Holger Ziehr arbeitet im Fraunhofer-Institut in Braunschweig, koordiniert dort die Arzneimittelentwicklung und hat sich seit vielen Jahren auf Bakteriophagen spezialisiert. Er kennt auch das Georgi-Eliava-Institut sehr gut, seit er einmal dort war. „Die haben wirklich sehr viel Erfahrung mit Phagen. Mit 1200 Mitarbeitern haben sie früher die gesamte Sowjetunion versorgt. Sie besitzen eine riesige Phagenbank. Unseriös ist deren Arbeit überhaupt nicht, im Gegenteil, allerdings ist das arzneimittelrechtliche System dort ein ganz anderes als bei uns.“Studien in größerem Umfang mit Kontrollgruppen und Randomisierung gebe es nicht.
Wie läuft in Tiflis eine Behandlung ab? „Zuerst wird eine Typisierung des Keims durchgeführt, und dann wird ein individueller und sehr spezifischer Phagen-Cocktail zubereitet. Die Trefferquote ist, wie man hört, ziemlich hoch.“Ähnliche Experimente werden seit Jahren auch in Warschau durchgeführt.
Ziehrs Braunschweiger Forschungen sind auch deshalb so wichtig, weil Antibiotika nicht nur Resistenzen erzeugen, sondern auch für Organe
schädlich sein können, etwa für die Leber. Weil sie potenziell giftig sind, nennt man das Problem Lebertoxizität. Manche Antibiotika sind sogar in Verruf geraten, etwa die sogenannten Fluorchinolone. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weiß das genauer: „Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone können in sehr seltenen Fällen Nebenwirkungen im Bereich der Sehnen, Muskeln, Gelenke und des Nervensystems hervorrufen, die schwerwiegend und anhaltend die Lebensqualität beeinträchtigend und möglicherweise dauerhaft sind. Betroffen davon sind alle Fluorchinolone, die über den Mund eingenommen, injiziert oder inhaliert werden.“
Das Problem für Resistenzen in westlichen Ländern ist die häufige Verordnung sogenannter Breitband-Antibiotika. Man haut mit der großen Keule auf einen Keim, vernichtet dadurch nicht nur wichtige Keime (etwa im Darm), sondern sorgt auch dafür, dass andere Keime unter einen erhöhten Selektionsdruck geraten, sich zurückziehen, mutieren und gleichsam unangreifbar werden. Dann helfen nicht selten nur noch sogenannte
Reserve-Antibiotika – oder gar keine mehr. Phagen dagegen sind nicht toxisch. Sie wirken nur an Bakterien. Wenn die sich zersetzen, entstehen zwar sogenannte Endotoxine, „aber die gibt es bei jedem Kampf gegen Bakterien. Deshalb entstehen ja auch Fieberschübe.“
In Deutschland steckt die Behandlung mit Phagen noch in den Kinderschuhen, doch gibt es ermutigende Ansätze. Ziehr: „Wir haben viel mit dem Keim Pseudomonas aeruginosa herumexperimentiert, der sehr gefährlich ist, weil er oft resistent gegen Antibiotika ist. Oft ist er bei Patienten zu finden, die an Mukoviszidose leiden und eine Lungenentzündung bekommen.“Für sie hat Ziehr mit seinem Team einen Phagen-Cocktail entwickelt, der 80 Prozent aller Pseudomonaden erfasst.
Es gibt mittlerweile auch eine Braunschweiger Kooperation mit den Bundeswehrkrankenhäusern. Ziehr: „Die Bundeswehr-Apotheke mischt dann Phagen für eine individuelle Behandlung chronischer Infektionen.“Auch die Medizinische Hochschule in Hannover arbeitet im Bereich der Transplantationsmedizin mit Phagen. „Das geht, weil Ärzte unter dem Siegel der Therapiefreiheit hierzulande Medikamente selbst herstellen dürfen. Oder denken Sie nur an einen Menschen, der einen Schrittmacher bekommt: Da stellt sich in seltenen Fällen schon einmal eine chronische Sepsis ein, die auf Antibiotika nicht mehr reagiert.“
Ziehr ist sich sicher: „Man wird bei uns im Kampf gegen resistente Erreger zusätzliche Wege gehen müssen.“Natürlich gibt es noch unklare Aspekte zu lösen. Zum Beispiel gibt es Möglichkeiten einer Resistenzbildung von Bakterien gegenüber Phagen. Am häufigsten ist eine Resistenz durch Veränderung des Erbguts, sodass die bakteriellen Rezeptoren mutieren und die Phagen nicht mehr andocken können. Allerdings wird dadurch oft auch die Aggressivität der Bakterien verringert. Das Bundesinstitut für Risikobewertung sagt: „Grundsätzlich gibt es eine quasi gemeinsame Weiterentwicklung von Bakterien und Phagen. Das bedeutet, dass bei einer Resistenzbildung der Bakterien die Phagen durch Verändern ihres Erbmaterials dieser Resistenz entgegenwirken.“
Viele schauen derzeit jedenfalls nach Braunschweig. Auch Herr Emsfeld hat dort angerufen. Leider konnte Holger Ziehr ihm nicht helfen. Erst müsse die Phagentherapie zugelassen sein. Die Not der Menschen spüre Ziehr deutlich: „Solche Telefonate tun mir weh.“Jetzt spart Herr Emsfeld für ein Flugticket nach Tiflis.