Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Hinter all den Zahlen stehen Menschen“
Der Bundespräsident findet bei der zentralen Gedenkfeier tröstende Worte für die Hinterbliebenen der Corona-Toten.
BERLIN Seine Mutter sei in einem Buchenwald beerdigt worden, erzählt Detlev Jacobs aus Koblenz. In der Natur, die sie so sehr liebte und in die sie zum Schluss nicht mehr gehen konnte. Finja Winkels aus Ganderkesee bei Oldenburg erinnert an ihren lebenslustigen Vater, der in der Pandemie an Leukämie starb und während der letzten zwei Monate im Krankenhaus seine Angehörigen nicht mehr sehen konnte.
„Bis heute begleiten mich die Bilder“, berichtet Anita Schedel aus Passau von den langen Krankenhausfluren und blinkenden Geräten. Diese sah sie allerdings erst, als ihr Mann bereits an Covid-19 gestorben war. „Ich appelliere an alle. Mir kann nichts und niemand meinen Mann zurückbringen, aber jeder, dem das erspart bleibt, ist es wert. Bleiben Sie stark und zuversichtlich, ich versuche, es auch zu sein“, ruft sie die Gesellschaft auf. Michaela Mengel aus Essen hat keine Kraft für eine öffentliche Rede. Sie verlor ihre 23 Jahre alte Tochter. Tagelang versuchten Ärzte, deren Leben zu retten – vergeblich. Ihre Tochter hatte das ganze Leben noch vor sich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hört diesen Schilderungen am Sonntag im Konzerthaus am Gendarmenmarkt mit gefalteten Händen zu, schließt oft die Augen. Dann steht sie auf und bringt gemeinsam mit einer Angehörigen eine Kerze in die Mitte des Saals. Die nationale Gedenkfeier der Staatsspitze für die rund 80.000 Todesopfer der Corona-Pandemie in Deutschland geht auf eine Initiative von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zurück. Er findet in seiner Rede tröstende, aber auch mahnende Worte. Die in der Pandemie erlebte Mitmenschlichkeit sei ein „Lichtblick in dunkler Zeit“. Die bleibende Erfahrung sei: „Wenn es hart auf hart kommt, sind wir auf andere angewiesen – und andere auf uns.“
Mit dem Gedenkakt solle das Schicksal der Verstorbenen und ihrer Angehörigen in den Fokus gerückt werden, die wegen der Isolation der Infizierten oftmals keinen Abschied von Sterbenden nehmen konnten, sagt Steinmeier. „Wir wollen und wir müssen der Menschen gedenken, die seit dem Beginn der Pandemie gestorben sind“, erklärt der Bundespräsident. Diese seien „in dieser dunklen Zeit einen einsamen und oft qualvollen Tod gestorben“. „Seit dem Beginn der Katastrophe blicken wir täglich wie gebannt auf
Infektionsraten und Todeszahlen, verfolgen Kurvenläufe, vergleichen und bewerten. Das ist verständlich. Aber mein Eindruck ist, dass wir uns als Gesellschaft nicht oft genug bewusst machen, dass hinter all den Zahlen Schicksale, Menschen stehen. Ihr Leiden und ihr Sterben sind in der Öffentlichkeit oft unsichtbar geblieben. Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen.“
Der Bundespräsident geht auch auf das Schicksal derer ein, die nicht an Covid-19 und dennoch einsam sterben mussten, auf Einsamkeit im Lockdown und Entbehrungen etwa von Kindern und Jugendlichen. „Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten. Das ist ein Konflikt, aus dem es keinen widerspruchsfreien Ausweg gibt“, sagte er. Das Land sei wundgerieben im Streit um den richtigen Weg.
Das zentrale Gedenken beginnt am Sonntagvormittag mit einem Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, unterstreicht, dass sich die Krisenerfahrung der Pandemie-Zeit wie ein Trauma auf die Seele lege. Die Verarbeitung werde viel Zeit kosten, hält er fest. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, verweist auf die Trennung Sterbender von ihren Angehörigen: „Kein Sich-Aussprechen, kein Trösten in der Angst, kein vergewissernder
Blick in die Augen, keine vertraute Hand.“Die Pandemie lasse auch kein Begräbnis mit vielen Menschen zu. „Es fehlt so viel“, sagt der Limburger Bischof.
Einer weiß sehr genau, dass die Corona-Pandemie noch nicht überstanden ist. Während die Nachrichten die nüchternen Zahlen transportierten, sehe er die Menschen hinter den Zahlen, sagt ein Berliner Krankenpfleger während des Gottesdienstes. Er sagt: „Ich liebe meinen Beruf, aber ich spreche wohl für viele, wenn ich sage, noch nie hat eine Herausforderung so viel Kraft verlangt.“
„Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird Schaden nehmen“
Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident