Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Ausgangssperren erst ab 22 Uhr
Die Berliner Koalition einigt sich auf Änderungen am geplanten Corona-Infektionsschutzgesetz. Ihr Ziel sind bundesweit einheitliche Regeln in Regionen mit Inzidenzwerten über 100. Die Grünen halten sie für nicht weitgehend genug, die FDP dagegen für zu um
BERLIN Die bundesweiten Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie sollen nach dem Willen der Koalitionsfraktionen von Union und SPD weniger streng ausfallen als von der Bundesregierung geplant. Nächtliche Ausgangsbeschränkungen soll es in Regionen mit Inzidenzwerten von über 100 Neuinfektionen nun zwischen 22 und fünf Uhr geben, nicht mehr bereits ab 21 Uhr. Joggen und Spaziergänge sollen bis Mitternacht erlaubt sein.
Am Donnerstag wird sich auch der Bundesrat mit dem neuen Infektionsschutzgesetz befassen. Aus Sicht der Bundesregierung ist es in der Länderkammer aber nicht zustimmungspflichtig, sodass es von den Ländern nicht gestoppt werden kann. Verfassungsrechtler haben daran allerdings noch Zweifel. Alle Regelungen sind befristet bis zum 30. Juni. Ziel ist es, Einschränkungen des öffentlichen Lebens bundesweit einheitlich zu regeln: Falls die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Stadt oder einem Landkreis drei Tage hintereinander über 100 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt, sollen dort jeweils die gleichen Regeln gelten. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte, bei den Änderungen sei die Koalition auch auf Forderungen der Opposition eingegangen. Grüne, FDP und Linke seien eingeladen, dem Gesetz zuzustimmen, Die Grünen, die in elf Ländern mitregieren, wollen sich im Bundestag jedoch enthalten, weil ihnen die Regelungen nicht weit genug gehen. Auch die FDP will nicht zustimmen – allerdings aus umgekehrtem Grund.
Im Einzelhandel soll das Abholen bestellter Waren (Click & Collect) nach der Koalitionsvereinbarung auch bei höheren Infektionszahlen weiterhin möglich sein. Für Schulen soll Distanzunterricht ab einem Inzidenzwert von 165 bundesweit verpflichtend werden. Im ursprünglichen Entwurf war hier ein Schwellenwert von 200 genannt worden. Für Kinder im Alter bis 14 Jahren soll Sport in Gruppen aber weiter möglich sein.
Arbeitgeber müssen künftig ihren Beschäftigten im Betrieb zwei Corona-Tests pro Woche bereitstellen. Zudem soll es künftig eine gesetzliche Homeoffice-Pflicht geben.
Neu ist zudem, dass die Bundesregierung keine Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie am
Bundestag vorbei erlassen kann. Die alte Fassung des Gesetzentwurfs sah vor, dass die Bundesregierung ermächtigt wird, „zur einheitlichen Festsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen“.
Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sieht die Position des Bundestages in der Pandemiebekämpfung dadurch gestärkt. „Rechtsverordnungen mit weitergehenden Maßnahmen kann die Bundesregierung nur mit Zustimmung des Bundestages einführen. Auch in der Pandemie hat also der Bundestag bei allen wesentlichen Fragen das letzte Wort“, sagte Fechner.
Die Grünen kritisierten die Änderungen als nicht weitgehend genug. „Die Pläne der Bundesregierung sind kein ausreichender Damm gegen die dritte Welle. Die Notbremse
wird zu spät und zu zögerlich gezogen“, sagte Gesundheitssprecher Janosch Dahmen. „Schon unterhalb einer Inzidenz von 100 brauchen wir konsequentere Schutzmaßnahmen. Statt auf symbolpolitische Maßnahmen wie Ausgangssperren zu setzen, wäre etwa ein Testpflicht am Arbeitsplatz
oder ein früheres Schließen von Schulen angebracht.“
Die Kommunen dagegen begrüßten die Änderungen. „Es ist richtig, die Ausgangsbeschränkungen erst ab 22 Uhr vorzusehen. Andernfalls wären die Menschen alle zur selben Zeit abends noch in die Lebensmittelgeschäfte geströmt“, sagte Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Gemeindebunds. Anders als in anderen EU-Ländern, wo es strikte Ausgangssperren auch tagsüber gegeben hatte, sei die deutsche Regelung lediglich eine lockere Ausgangsbeschränkung, die viele Ausnahmen auch weiterhin zulasse.
„Wenn jetzt nicht sofort konsequent und bundeseinheitlich wieder für mehr Kontaktbeschränkungen gesorgt wird, ist auch die Triage in den nächsten Wochen weiterhin nicht ausgeschlossen“, warnte der frühere Chef des Intensivmediziner-Verbandes Divi, Uwe Janssens.
„Die Triage ist das Schlimmste, was Ärztinnen und Ärzten passieren kann. Tragische Entscheidungen von diesem Ausmaß darf man Ärzten nicht zumuten“, sagte Janssens. „Wir werden durch eine fehlerhafte Politik, durch politisches Missmanagement seit einem Jahr in diese unsägliche Situation hineingetrieben, die mit den geeigneten Maßnahmen definitiv zu verhindern wäre“, sagte der Intensivmediziner.
Auch Ärztepräsident Klaus Reinhardt forderte konsequenteres Handeln der Politik. „Bundeseinheitliche Regeln für eine Corona-Notbremse sind längst überfällig. Allerdings sollten wir neben dem Inzidenzwert noch weitere Kriterien heranziehen, um diese Notbremse zu aktivieren“, sagte Reinhardt unserer Redaktion. Dazu zähle die Zahl der täglichen Neuaufnahmen von Corona-Intensivpatienten sowie die Anzahl intensivpflichtiger Patienten.