Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Parteien brauchen Außenseiter
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat bei Facebook einen rassistischen Spruch rausgehauen und rechtfertigt das nachträglich als Ironie. Aber sollten die Grünen ihn deswegen aus der Partei ausschließen?
Hier folgt kein Plädoyer für Boris Palmer. Das wäre auch schwer. Das N-Wort zu gebrauchen, lässt sich nicht rechtfertigen. Und selbst sein Argument, es habe sich um Ironie gehandelt, zählt nicht. Denn in der Politik wie im richtigen Leben gilt: Ironie geht häufig schief, das sollte ein erfahrener Politiker wissen. Ironie bedeutet, das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint – da sind Missverständnisse programmiert. Aber selbst wenn es sich bei seiner Erklärung nur um den Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung handeln sollte, also um eine Schwindelei: Ist es richtig, dass die Grünen ihn deswegen rauswerfen wollen?
Schon das Gefälle zwischen ihm und Annalena Baerbock wirft Fragen auf. Hier die Kanzlerkandidatin und Parteichefin, dort der Oberbürgermeister der gerade einmal zwölftgrößten Stadt in Baden-Württemberg. Wenn Baerbock twittert, Palmer habe die politische Unterstützung der Grünen verloren und es werde nun „über die entsprechenden Konsequenzen inklusive Ausschlussverfahren“beraten, stellt sich die Frage, ob es auch einige Nummern kleiner geht. Würde sie nicht ins Kanzleramt streben, wäre das wohl auch so.
Im Recht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich auch für die Politik empfiehlt. Eine rassistische Äußerung bei Facebook, ironisch oder nicht, soll Grund genug sein, jemanden auszuschließen, der seit 25 Jahren dabei ist, Debatten mitgeprägt hat, im Stuttgarter Landtag Vize-Fraktionsvorsitzender wurde und seit 14 Jahren als Oberbürgermeister amtiert.
Sicher, es ist nicht seine erste Provokation, nicht die erste Kontroverse um ihn. „Das Maß ist voll“, sagt Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand. Gut drei Viertel der Delegierten des Landesparteitags stimmten für ein Ausschlussverfahren. Palmer kündigte an, sich in dem Verfahren einzubringen. Er ähnelt einem Schüler aus der letzten Reihe, der immer wieder und mit System idiotische, verletzende Kommentare raushaut. Es gibt ihn überall, meistens kommt er nicht weit. Die große politische Karriere blieb auch Palmer versagt. Aber Parteien brauchen Außenseiter, vielleicht sogar Störer.
Im Grundgesetz heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. “An der politischen Willensbildung mitzuwirken, bedeutet auch, andere Meinungen auszuhalten. Nun lässt sich das N-Wort nicht als andere Meinung verniedlichen. Aber Außenseiter ist Palmer immer wieder gewesen. Ist das nur schlecht? Oder gehört das nicht zwingend zum demokratischen und auch innerparteilichen Diskurs?
Als das Grundgesetz veröffentlicht wurde, lag der Tag der Befreiung gerade einmal vier Jahre zurück. Der NSDAP wollte kaum jemand mehr angehört haben. Aber selbst in den Köpfen derer, die nicht Nazis waren, hatten sich Denkbilder festgesetzt, die bis heute nicht ganz aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind. Antisemitismus und Rassismus waren nicht Geschichte – und sind es noch nicht. Die Parteien bildeten ein breites Spektrum ab, alle zusammen und jede für sich.
Das gilt auch für die CDU, wie sich etwa im Ahlener Programm von 1947 nachlesen lässt: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, heißt es da. Diesen Satz dürfte heute nahezu kein CDU-Mitglied unterschreiben. Die SPD zählte viele Kommunisten in ihren Reihen, die sich zwar vom Sowjetregime abwandten, aber doch auf den Klassenkampf hofften. Es gab politische Gegensätze, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann.
Die Grünen gibt es erst seit gut 40 Jahren, auch sie waren lange geprägt von Auseinandersetzungen zwischen Realos und Fundis. Längst nicht alle Grünen waren damals so staatstragend, wie es ihre Partei inzwischen ist. Dass einer von ihnen als Außenminister Militäreinsätze rechtfertigen würde, dass ein anderer in Baden-Württemberg als – zweimal wiedergewählter – Ministerpräsident amtiert und dass nun eine von ihnen gute Chancen hat, Kanzlerin zu werden – niemand hätte das damals für möglich gehalten. Für viele Grüne war der Staat der Feind.
Aber Gegensätze tun Parteien gut, sie schärfen Argumente und helfen auf dem Weg zur demokratischen Legitimation der Macht. Eine Partei muss Ränder und Flügel haben, sonst verliert sie sich in Selbstgerechtigkeit. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung schließt ein, dass auch Unterlegene ihren Platz haben. Parteien sollten viel aushalten können, auch Rechthaber, Dummköpfe und Provokateure, solange die nicht gegen Gesetze verstoßen.
Heinrich Lummer, der vor zwei Jahren verstorbene Berliner Innenpolitiker, würde heute in der CDU als Radikaler gelten. Aber sollte sie deswegen einen wie ihn ausschließen? Die SPD hat es mit Thilo Sarrazin durchgezogen und ihn, den ehemaligen Finanzsenator und Bundesbankvorstand, nach mehreren Anläufen rausgeworfen. Seine Fixierung auf „Kopftuchmädchen“und das gefährliche Narrativ der Überfremdung haben die SPD überfordert – spricht das für ihre Stärke?
Nun Boris Palmer. Die Grünen schicken sich an, eine Volkspartei zu werden, jedenfalls solange man den Osten außen vor lässt. Aber dann müssen sie die rassistische Äußerung eines wenig bedeutenden Kommunalpolitikers aushalten können. Vor einem Ausschlussverfahren hätte es eine nahezu unendliche Liste von Möglichkeiten gegeben, wie die Partei mit seiner offenkundigen Fehlleistung umgehen kann. Die Grünen sollten mehr Souveränität zeigen. Das N-Wort aus Tübingen rechtfertigt nicht die größtmögliche Sanktion, und das nun anstehende langwierige Ausschlussverfahren gibt Palmer die Gelegenheit, sich zu einem Dissidenten zu stilisieren.