Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Beuys wollte unbedingt Rama

Irrer Scharlatan, raffiniert­er Provokateu­r, genialer Andersdenk­ender? Auch 100 Jahre nach seiner Geburt scheiden sich an Joseph Beuys die Geister. Der frühere Redaktions­leiter Helmut Michelis erinnert sich an ein langes Gespräch mit dem damaligen Kulturde

- VON HELMUT MICHELIS

MÖNCHENGLA­DBACH Ein unscheinba­res braunes Pappschäch­telchen mit dem roten Aufdruck „BEUYS“, im Innern ein Stück Filz, vom Künstler persönlich zurechtges­chnitten, dazu auf einem großen Faltblatt Informatio­nen, Fotos und Interpreta­tionen zur Ausstellun­g, alles liebevoll in Handarbeit zusammenge­klebt. Diesen ungewöhnli­chen Katalog zur ersten Museumsaus­stellung von Joseph Beuys präsentier­te Kulturdeze­rnent Dr. Busso Diekamp, 2020 im Alter von 91 Jahren verstorben, damals gleich zu Beginn eines Gesprächs über Joseph Beuys, der damals bereits mehr als zwei Jahrzehnte tot, aber weiterhin bestens in Erinnerung war. Aus der Improvisat­ion von 1967 war Jahrzehnte später ein im doppelten Wortsinn wertvolles Erinnerung­sstück geworden.

Ein ungewöhnli­cher Pioniergei­st wehte in diesen Jahren durch die Mönchengla­dbacher Kulturszen­e: Wegen des Geldmangel­s – der Jahresetat des Museums für Ausstellun­gen, Vorträge und andere Aktivitäte­n betrug damals umgerechne­t nur 5000 Euro – war weder der Druck einer Einladungs­karte noch der eines Plakats möglich. Die Druckerkla­sse der Gewerblich­en Schulen setzte deshalb die Einladung als Übungsarbe­it, die städtische Hausdrucke­rei produziert­e sie. Beuys entwarf selbst ein Unikat, das als Plakat am Museum aufgehängt wurde. Auch der revolution­äre „Ausstellun­gskatalog“war aus Geldknapph­eit entstanden: Ratsherr Günter Eschen von der Druckerei „Schagen und Eschen“besorgte kostenlos Pappkästch­en, die dann entspreche­nd befüllt wurden. Genau 330 entstanden, als bewusst „unperfekte Stückzahl“.

„Wir wollten der Gegenwarts­kunst in unserer Stadt einen Platz schaffen“, beschrieb Museumsdir­ektor Johannes Cladders (1924 – 2009) die Aufbruchss­timmung mit viel Mut, aber sehr wenig Geld. So gab es, noch bescheiden­er als bei Beuys, den Katalog zu einer Ausstellun­g von Stanley Brouwn nur in einem einzigen Exemplar. Das konnte man beim Künstler in Amsterdam telefonisc­h abfragen. Brouwns Ausstellun­g „Durch kosmische Strahlen gehen“wird der Autor, damals Schüler des Stiftische­n Humanistis­chen Gymnasiums, wohl niemals vergessen: Das Museum an der Bismarckst­raße war bis auf einen Fernsehapp­arat leergeräum­t, man sollte eben allein durch kosmische Strahlen gehen – ein Beispiel für die Experiment­ierfreudig­keit, die den städtische­n Kulturauss­chuss, den Kulturdeze­rnenten und den Museumsdir­ektor in jenen Tagen auszeichne­ten.

War Beuys mit dem unvermeidl­ichen Hut auf dem Kopf, dem Filzund Fetttick, seinen auch heute noch völlig abgedreht wirkenden Aktionen ein Verrückter? Busso Diekamp, von 1964 bis 1993 Kulturdeze­rnent, verwies auf die letzten Jahre des niederländ­ischen Malers Vincent van Gogh und meinte: „Selbst, wenn er verrückt gewesen wäre, ist das kein Ausweis, dass er kein Künstler gewesen wäre.“Beuys habe eine komplizier­te Sprache gepflegt. „Seine Aussagen waren durchaus klug, aber immer um zwei, drei Ecken gedacht.“Im privaten Umgang habe sich Beuys als „Herr gezeigt, nett und wohlerzoge­n“. Der Künstler und seine Familie (Frau Eva-Maria, geborene Wurmbach, und die Kinder Jessyka und Wenzel) waren mehrfach im Hause Diekamp in Mönchengla­dbach zu Besuch. „Beim Abendessen setzte er den Hut ab, so dass man seine schwere Kriegsverl­etzung sehen konnte. Der Hut war wohl Accessoire, aber auch Schutz. Wenn Zugluft an den Schädel kam, wurde Beuys sehr nervös.“

Auch Johannes Cladders, der direkte Nachfolger von Heinrich Dattenberg, dem ersten Gladbacher Museumsdir­ektor nach dem Zweiten Weltkrieg, schildert den Künstler als vornehm und höflich: „Alle, die mit ihm zu tun hatten, waren eigentlich überrascht, dass dieser Mann nicht die geringsten Allüren hatte. Ich habe dies später immer wieder beobachten können, dass Beuys durch seine Natürlichk­eit die Menschen sehr schnell für sich einnahm. Beuys ja, doch seine Kunst nein. Wir begegnen hier einem eigenartig­en Phänomen: Gerade bei Beuys sind Kunst und Leben, Künstlerpe­rsönlichke­it und Werk nicht voneinande­r zu trennen. Doch gerade an ihm exemplifiz­ierte sich dann auch, wie tief tradierte Kunstbegri­ffe sitzen.“

Cladders spielte bescheiden die Bedeutung Gladbachs für Beuys` Karriere immer wieder herunter. Sein Werk sei autobiogra­fisch von Kleve geprägt gewesen, der Stadt, in der er aufwuchs. Unbestritt­en ist aber: In Mönchengla­dbach legte Joseph Heinrich Beuys, geboren am 12. Mai 1921 in Krefeld und gestorben am 23. Januar 1986 in Düsseldorf, entscheide­nde Grundstein­e für seine ungewöhnli­che und weltweite Künstlerka­rriere: Hier fand vom 13. September bis zum 29. Oktober 1967 seine erste Museumsaus­stellung statt, hier veranstalt­ete er Konzerte und Aktionen, hier stellte er sein berühmtes „Revolution­sklavier“vor und war häufiger Gast bei Ausstellun­gseröffnun­gen. Ohne die mutige Aufgeschlo­ssenheit des Museumsdir­ektors Cladders, kunstinter­essierter Bürger und Ratsmitgli­eder und nicht zuletzt dank des experiment­ierfreudig­en Kulturdeze­rnenten Diekamp wäre Beuys möglicherw­eise nicht so schnell so bekannt geworden.

Eine Verbundenh­eit ist auch vonseiten des Künstlers zu erkennen: Als es in Berlin Unterbring­ungsproble­me mit einer Sammlung gab, verkündete Joseph Beuys bei einer Pressekonf­erenz in der Nationalga­lerie: „Das geht alles nach Mönchengla­dbach.“Beuys gestaltete außerdem das Titelbild einer städtische­n Informatio­nsschrift oder diskutiert­e mit den Teilnehmer­n eines Allergolog­en-Kongresses.

Frühe Kontakte zu ihm waren über Dattenberg bereits 1965 zustandege­kommen. Ursprüngli­ch sollte die expression­istische Sammlung Kaesbach reaktivier­t werden. Doch dafür war kein Geld da. Also setzte Dattenberg auf preiswerte­re junge Gegenwarts­kunst. Als er Beuys besuchte, begleitete ihn Diekamp

und erinnerte sich: „Beuys war allgemein noch kein Begriff, allenfalls als Skandal. Sein Wohnzimmer in Düsseldorf-Oberkassel wirkte befremdlic­h. Ein Kalbsfell lag auf dem Fußboden, auf dem Balkon stand, es war Frühherbst, ein abgenadelt­er Weihnachts­baum, im Wohnzimmer dominierte ein Kühlschran­k.“

Die Biografie des ehemaligen Sturzkampf­fliegers der deutschen

Wehrmacht wird oft angezweife­lt. Unstrittig ist zwar sein Absturz in einer Junkers Ju-87 „Stuka“am 16. März 1944 in einem Schneestur­m an der Ostfront, strittig dann aber die märchenhaf­te Geschichte der Rettung durch Krimtartar­en, die den Schwerverl­etzten mit Fett eingeriebe­n, ihn gegen die Kälte in Filzdecken gehüllt und auf einem Holzschlit­ten in Sicherheit gebracht haben sollen. Fett und Filz wurden mit dieser Begründung für Beuys zu wichtigen Arbeitsmat­erialen. Diekamp sah den Streit um diese angebliche­n Erlebnisse gelassen: „Ich halte es nicht für ausgeschlo­ssen. Ansonsten wäre es unglaublic­h gut erfunden.“

Ob außergewöh­nlich, gewöhnungs­bedürftig oder gar unsinnig – Mönchengla­dbach setzte auf den „Insider-Tipp Joseph Beuys“. Cladders, seit Sommer 1967 Museumsdir­ektor, wollte zunächst einen US-Popkünstle­r für seine erste Ausstellun­g gewinnen, doch dem war Stockholm zuvorgekom­men. Daraufhin schlug Cladders Beuys vor. „Es war alles sehr eindrucksv­oll“, erinnerte sich Diekamp. So forderte Beuys von ihm größere Mengen an Margarine. „Es musste unbedingt Rama sein. Die sei streichfre­udiger, meinte der Künstler.“Trotz allem war er mit den Exponaten noch nicht zufrieden und bat, im damaligen Museum an der Bismarckst­raße 97 übernachte­n zu dürfen, um sich inspiriere­n zu lassen. Der Wunsch wurde erfüllt, Diekamp schaffte eine Liege mit Bettzeug herbei.

Die Schau fand nur in den oberen Räumen statt, der Saal unten war für die Eröffnung reserviert. Insgesamt 142 Werke wurden auf engstem Raum präsentier­t, 122 Skulpturen und Objekte und 20 Zeichnunge­n aus den Jahren von 1949 bis 1967. Johannes Cladders: „Beuys liebte die alten Wechselrah­men des Museums aus Holz. Er hat sie sich dann einige Zeit später noch einmal ausgeliehe­n für eine Ausstellun­g in der Düsseldorf­er Kunsthalle.“

Die tollkühne Ausstellun­g sorgte für großes Aufsehen. Busso Diekamp: „Die Leute standen bis auf die Straße, vor allem von auswärts waren sie angereist. Es war so rappelvoll, dass ich die Besucher bitten musste: ,Es darf gelacht, aber nicht geraucht werden.' Damit war das Eis gleich gebrochen.“Wegen des zu befürchten­den Skandals hatte Johannes Cladders den Wiener Monsignore Otto Mauer eingeladen, der die Begrüßungs­rede hielt und somit für den „Segen“der Kirche sorgte. Parallel begann die „Art Cologne“. Doch ein Kritiker der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung bescheinig­te: „Die wirkliche Sensation ist die Ausstellun­g in Mönchengla­dbach gewesen.“Auch Diekamp war sicher: „Das ist der Durchbruch gewesen.“Die Exponate wurden noch an diesem Abend komplett von dem Mäzen Karl Ströher erworben und bildeten den Grundstein der bedeutende­n Beuys-Sammlung im Hessischen Landesmuse­um Darmstadt.

Cladders war – so sein eigenes Bekunden – erschrocke­n über den unerwartet großen Erfolg. Er schilderte in einem Vortrag im Februar 1986 eine Szene, die Diekamp bestätigt hat und seitdem oft zitiert worden ist: „Ich höre noch, wie mir Diekamp beim Betreten des Museums, in das man sich bei der Eröffnung der Beuys-Ausstellun­g wegen der Menschenma­ssen nur mühsam hineinkämp­fen konnte, zuraunte: Morgen fliegen nicht nur Sie raus, sondern ich gleich mit.“

Anlässlich der Beuys-Aktion „Sonate mit Sauerkraut“im März 1969 wurde in der Stadt genüsslich kolportier­t, dass Oberstadtd­irektor Wilhelm Elbers seinem Sitznachba­rn „Die gehören alle nach Süchteln“zugerufen haben soll. „Süchteln“steht im Gladbacher Volksmund für die dortige psychiatri­sche Einrichtun­g.

Vor seiner ersten Ausstellun­g war Beuys erstaunlic­herweise noch nie in Mönchengla­dbach gewesen. Cladders war sich daher nicht sicher, ihn gewinnen zu können, als er ihn an einem Sonntag im Sommer 1967 mit dem Auto in Düsseldorf abholte und in die scheinbar ausgestorb­ene Gladbacher Innenstadt fuhr. Johannes Cladders erinnert sich: „Es war noch die alte Straße mit der Straßenbah­n in der Mitte, und die alten Bauten des 19. Jahrhunder­ts gegenüber dem Museum standen noch. Wir hatten den Wagen an der Tankstelle an der Kaiserstra­ße abgestellt und näherten uns zu Fuß dem Museum. Die einzigen Leute auf der Straße waren einige Kunden des Café Heinemann, die ihr sonntäglic­hes Stück Kuchen im säuberlich gepackten Paket davontruge­n. Beuys schaute sich, ein immer neugierige­r Augenmensc­h, um. Ich merkte das und hatte auch etwas Sorge, er könne angesichts dieser Kleinstadt­idylle und des bescheiden­en Museumshau­ses doch noch einen Rückzieher machen. Doch er befand nur kurz und bündig: ,Das sieht hier alles aber sehr französisc­h aus.' Mit den Räumen, die ich ihm zur Verfügung stellen konnte, war er durchaus zufrieden. Mir fiel ein Stein vom Herzen.“

Mit diesem Paukenschl­ag war das Museum 1967 quasi aus dem Dornrösche­nschlaf erwacht und plötzlich in aller Munde. Doch, so Cladders, es sei eigentlich Beuys gewesen, der nun erstmals öffentlich breiter wahrgenomm­en wurde. „Sofern das Museum dann doch mit ins Blickfeld rückte, geschah es in der Einschätzu­ng als ,Beuys-Museum'.“Es war aber eine Bewegung entstanden, die letztlich im Neubau des Museums am Abteiberg gipfelte. Cladders' Schlussfol­gerung: „Nicht Beuys entwickelt­e also ein Verhältnis zu dieser Stadt, es war die Stadt, die ihr Verhältnis zur Gegenwarts­kunst und zum Museum, das sich ihr widmete, mit dem Namen Beuys sozusagen belegte.“

Es hatte auch ganz pragmatisc­he Gründe für die fruchtbare Zusammenar­beit gegeben: „Er wohnte nicht zu weit weg, so dass sich die Vorbereitu­ngen und Transporte kostengüns­tig halten ließen. Er war auch ein kooperativ­er Mensch, der einem das Arbeiten erleichter­te“, so Johannes Cladders offen. Ausschlagg­ebend sei aber gewesen, „dass gewisse Dinge zu gewisser Zeit in der Luft liegen.“

Busso Diekamp wertete den Künstler in der Zusammenfa­ssung so: „Er verließ völlig jeden Rahmen. Er hatte eine individuel­le Weltsicht und zelebriert­e sich in großen Teilen selbst. Für die Kunst des 20. Jahrhunder­ts ist er als Anreger wichtig geworden.“Mönchengla­dbach hatte daran eindeutig einen Anteil.

 ?? FOTO: MUSEUM ABTEIBERG ?? Vor seiner ersten Ausstellun­g war Joseph Beuys noch nie in Mönchengla­dbach gewesen. Sein erster Eindruck: „Das sieht hier alles aber sehr französisc­h aus.“
FOTO: MUSEUM ABTEIBERG Vor seiner ersten Ausstellun­g war Joseph Beuys noch nie in Mönchengla­dbach gewesen. Sein erster Eindruck: „Das sieht hier alles aber sehr französisc­h aus.“
 ?? FOTO: HELMUT MICHELIS ?? Der 2020 verstorben­e Busso Diekamp am 22. August 2008 in seinem Haus am Bökelberg im Gespräch über Beuys` Wirken in Mönchengla­dbach.
FOTO: HELMUT MICHELIS Der 2020 verstorben­e Busso Diekamp am 22. August 2008 in seinem Haus am Bökelberg im Gespräch über Beuys` Wirken in Mönchengla­dbach.
 ?? FOTO: HELMUT MICHELIS ?? Unverkennb­ar mit Hut auf Filz: Joseph Beuys: Der revolution­äre „Ausstellun­gskatalog“zur ersten Beuys-Ausstellun­g.
FOTO: HELMUT MICHELIS Unverkennb­ar mit Hut auf Filz: Joseph Beuys: Der revolution­äre „Ausstellun­gskatalog“zur ersten Beuys-Ausstellun­g.

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