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Wikipedia, der Männerclub
Der Siegeszug des Internet-Lexikons ist faszinierend. Allerdings schottet sich die Community immer stärker ab.
„Wikipedia ist die größte Enzyklopädie aller Zeiten.“So beginnt das Buch von Pavel Richter, Ex-Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, ausgeschieden auf Beschluss der Ehrenamtlichen im Aufsichtsrat dieser Stiftung. Das Buch beeindruckt durch ein Nebeneinander von Digitalisierungseuphorie und der Einsicht, welche analogen Notwendigkeiten und Probleme es gibt. Fakten belegen den Superlativ Richters. Wikipedia gibt es seit 2000, inzwischen in 310 Sprachen bei 13 Milliarden Seitenaufrufen pro Monat. Im Zuge dieser Entwicklung ist anderen Enzyklopädien die Luft ausgegangen, so Brockhaus 2006.
Wie kam es zu Wikipedia? Die Idee entstand in den USA. Jimmy Wales, in der internet-gestützten Finanzbranche erfolgreich, hatte die Vision, das „ganze Wissen der Menschheit allen Menschen der Welt frei zur Verfügung stellen zu können“und das mit den Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Internet zu verbinden. Es entsprach seiner Überzeugung, dass Menschen in freier Selbstbestimmung bessere Ergebnisse produzieren als zentral gelenkte Institutionen. Wales schreibt das in einem lesenswerten Vorwort.
Diese Vision führte über Versuche mit der Nutzung der Software „Wiki“2003 zur Wikimedia Foundation, als gemeinnützige Eigentümerin von Wikipedia. Die Plattform wird ausschließlich über Spenden finanziert – im Jahr 2020 waren es 112 Millionen Dollar (93 Millionen Euro), davon 10 Millionen aus Deutschland.
Die Erstellung der Artikel leisten die Wikipedianer. Sie sind das Paradebeispiel einer selbstorganisierten Community, bestehend aus Ehrenamtlichen. Vorbild ihrer Tätigkeit sind die Enzyklopädien der Aufklärung, vor allem die Diderots. Richter lässt nachvollziehen, wie Artikel entstehen und auch verschwinden können, er lässt in „den Maschinenraum freien Wissens“blicken. Dabei wird ein ausgeklügeltes System von Qualitätskontrollen sichtbar, einschließlich eines Schiedsgerichts. Die wissenschaftlich-fachliche Qualität der Artikel ist der Anspruch, der den Erfolg sichert.
Mit der Wikimedia-Bewegung verbindet sich für Richter die Begeisterung für die digitale Transformation.
Sie geht zurück auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den USA 1967. Dabei kamen junge Menschen zusammen, die alles anders machen wollten und zwar sofort. Das konnten Musik, freie Liebe und Spiritualität sein, kein Bereich des Lebens blieb unberührt. Aus diesem „Samen“entstand auch die digitale Transformation, mit Nerds und Hackern.
Schon diese deuten an, dass die Freiheitsillusionen des Internets auch trügen können. Die großen Internetgiganten nutzen die Möglichkeiten des Netzes durch Ausübung monopolkapitalistischer Macht. Und bisher konnte niemand verhindern, dass in China Wikipedia nicht genutzt werden kann, es hier eine zensierte eigene Wissensmaschine gibt, genannt Baidu Baike. Auch ist Wikipedia westeuropäisch geprägt, was seine Nutzung außerhalb Europas einschränkt.
Das sind die großen Zusammenhänge. Aber es gibt auch die Mikrowelt der Wikipedianer. Hier kommt es darauf an, wer Zeit hat und wer komplexe Regeln achtet. Auch daraus können „ultimative Machtinstrumente“entstehen. „Zeit und und Demut“(Richter) bringen zu 90 Prozent Männer auf. Doch immer mehr verlassen die Bewegung, weil sie keine funktionierende Willkommenskultur besitzt. Dazu ist ein in sich geschlossener Männerclub kaum fähig. Dabei geht Wikipedia auch offline, mit regionalen bis globalen Wikimania-Treffen. Es gibt regelmäßige Stammtische. Die ehrenamtlichen Wikipedianer, so Richter, „haben die gleichen Bedürfnisse nach Zusammenhalt, Austausch und sozialen Kontakten wie die Freiwillige Feuerwehr oder Skatclubs“.
Wikipedia ist „ein einmaliges Experiment in der Weltgeschichte“– für ein ganzheitliches Wissensverständnis. Das aber wird wohl nur gelingen, mit einem „anderen Internet“und mit einer lebensweltgerechten Utopie der Kollaboration und des Austausches.