Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Ausbeuteri­sche Arbeitsver­hältnisse bekämpfen“

Die Pandemie hat die Probleme der Menschen ohne Job verschärft, berichten Justine Krause und Karl Sasserath vom Arbeitslos­enzentrum.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE HOLGER HINTZEN.

Justine heißt ,Die Gerechte'. Hat der Name etwas damit zu tun, dass Sie seit Jahresbegi­nn das Arbeitslos­enzentrum leiten?

KRAUSE So habe ich das noch nicht betrachtet. Ich hatte allerdings schon als Kind einen sehr starken Gerechtigk­eitsdrang. Ich bin ja im November 2019 zunächst für ein Gesundheit­sprojekt ins Arbeitslos­enzentrum gekommen. Die Strukturen und die Mentalität, mit der hier gearbeitet wird, haben mich direkt sehr angesproch­en. Ich habe gesehen, dass ich hier die Möglichkei­t habe, etwas zu bewegen – zum Beispiel durch die Beratung der Menschen für etwas mehr Gerechtigk­eit und gerechtere Lebenslage­n zu sorgen.

Waren Sie selbst schon einmal arbeitslos?

KRAUSE Nein. Aber ich komme aus Gelsenkirc­hen, eine Stadt mit einer ähnlich hohen Zahl von Sozialleis­tungsempfä­ngern wie Mönchengla­dbach. Meine Mutter war Alleinerzi­ehende mit zwei Kindern – was Armut im Alltag bedeutet, ist mir geläufig.

Und Sie, Herr Sasserath?

SASSERATH Ich hatte mein Studium Soziale Arbeit in Mönchengla­dbach abgeschlos­sen und war nach dem Anerkennun­gsjahr dann Anfang der 1980-er Jahre drei Jahre lang arbeitslos. Das war eine Zeit, in der viele Akademiker, zum Beispiel Lehrer, keine Arbeit fanden. Die Haltung der Arbeitsämt­er war damals: Wir schicken euch in eine Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme, dann haben wir euch vom Hals – macht was draus. Und ich hatte dann das Glück Herbert Greif von der katholisch­en Arbeiterun­d Betriebsse­elsorge kennenzule­rnen. Wir haben dann 1982 eine Selbsthilf­egruppe, den Arbeitslos­entreff, gegründet. Der wurde dann gut fünf Jahre später zum Verein Arbeitslos­enzentrum. Und damit wurde dann auch die Arbeit profession­alisiert.

Fühlen Sie sich wieder arbeitslos, wenn Sie Ende des Jahres im Zentrum aufhören?

SASSERATH Nein, ich bin dann Rentner. Und dann gibt es immer noch genug Aufgaben. Vielleicht arbeite hier im Zentrum noch etwas ehrenamtli­ch, es gibt Anfragen für Vorträge – und ich beschäftig­e mich schon seit längerem mit dem Thema Textilindu­strie und Kolonialis­mus in Mönchengla­dbach. Dazu soll es einen Beitrag für ein Buch der Mönchengla­dbacher Geschichts­werkstatt geben.

Stehen Arbeitslos­e in Mönchengla­dbach heute besser da als vor 40 Jahren, als der Arbeitslos­entreff startete?

SASSERATH Mit der Krise der Textilund Bekleidung­sindustrie in Mönchengla­dbach, die Anfang der 1980er ihren Höhepunkt hatte, hat sich die die Arbeitslos­igkeit zwischen 1980 und 1983 verdreifac­ht. Wenn man sich die Strukturda­ten heute genau ansieht, dann hat sich quantitati­v seitdem nichts geändert. Wir haben immer noch eine so hohe Zahl an Arbeitslos­en. Die Lebenslage­n für viele Arbeitslos­e und ihre Familien hat sich aber seit 1982 noch einmal dramatisch verschlech­tert.

Inwiefern?

SASSERATH Mit der Hartz-Reform 2005 ist eine gravierend­e Änderung eingetrete­n durch die Abschaffun­g der sogenannte­n Arbeitslos­enhilfe, die war zuvor der Versicheru­ngsleistun­g Arbeitslos­engeld stark nachgebild­et gewesen. Wenn ein Textilarbe­iter arbeitslos wurde und seine Frau ging weiter einem Erwerb nach, wurde deren Einkommen für die Gewährung von Leistungen weitgehend nicht miteingere­cht, die Vermögensf­reibeträge waren bedeutend höher, Kindergeld und Wohngeld wurden nicht als Einkommen angerechne­t. Es gibt eine kleine Gruppe, die sich etwas verbessert hat, das sind die ehemals arbeitslos­en Sozialhilf­eempfänger. Die Einkommens­situation derjenigen, die aus der Versicheru­ngsleistun­g Arbeitslos­engeld I kamen und danach die Arbeitslos­enhilfe bekommen haben, hat sich unter dem heutigen Hartz-IV hingegen stark verschlech­tert.

Wie hat sich die Beratungsa­rbeit im Zentrum verändert?

SASSERATH Eine große Gruppe, die wir beraten, sind Alleinerzi­ehende – alleinerzi­ehend zu sein ist ein hohes Armutsrisi­ko. Eine zweite Gruppe sind Menschen mit gesundheit­lichen Einschränk­ungen – wir haben zunehmend mit Menschen mit chronische­n Krankheite­n, körperlich­en Behinderun­gen, psychische­n Leiden und Depression­en zu tun. Und in großen Familien, bei denen das Einkommen aus einem Job in der Logistikbr­anche kommt, reicht das schnell nicht mehr aus, da sind Aufstockun­gsleistung­en nötig. Die Öffnung des europäisch­en Arbeitsmar­ktes hat zu starken Wanderungs­bewegungen geführt. Durch die Entwicklun­g zum Logistikst­andort ist Mönchengla­dbach zu einem globalen Magneten für Arbeitskrä­fte geworden. Und auch diese Gruppe sucht unsere Beratung inzwischen stark nach.

KRAUSE Die Beratungen werden dadurch wesentlich komplexer. Wir haben mit noch mehr Gesetzeste­xten zu tun, etwa zu ausländerr­echtlichen Problemlag­en. Und wenn jemand kein Deutsch spricht, ist die Frage, ob er einen Dolmetsche­r mitbringt oder wir einen besorgen müssen. Das alles erhöht den Aufwand. Seit Anfang des Jahres ist zur Erwerbslos­enberatung noch das Thema Bekämpfung ausbeuteri­scher Arbeitsver­hältnisse hinzugekom­men. Da kümmern wir uns zum Beispiel um Lkw-Fahrer, die in der Regel die ,letzte Meile' zu Logistikbe­trieben in Mönchengla­dbach fahren, oft nicht aus der EU, sondern aus Drittstaat­en stammen, in Deutschlan­d Anspruch auf den Mindestloh­n haben, das aber gar nicht wissen. Zudem haben sie das Problem, wo sie bei ihrem Aufenthalt hier eine Toilette oder einen Platz, wo sie duschen können, finden. Wir haben unter anderem mit der Gewerkscha­ft Verdi, dem Deutschen Gewerkscha­ftsbund und dem Volksverei­n das Bündnis ,Fair fahren' gegründet und wollen versuchen, Politiker, Kommune und Firmen in die Verantwort­ung zu ziehen, für eine vernünftig­e Infrastruk­tur für diese Fahrer zu sorgen.

Was hat es mit dem Projekt ,Gesund im Quartier' auf sich, das Sie 2019 im Arbeitslos­enzentrum übernommen haben?

SASSERATH Vielleicht zur Vorgeschic­hte:

Wir haben in der Beratung festgestel­lt, wie stark sich Arbeitslos­igkeit auf die Gesundheit eines Menschen auswirkt, wie etwa Burn Out und Depression­en dadurch zunehmen. Wir haben dazu untersucht, wie die Menschen im Innenstadt-Quartier leben, ein Handlungsk­onzept entwickelt und von der Mönchengla­dbacher Gesundheit­skonferenz den Auftrag bekommen, das umzusetzen und von den Krankenkas­sen dann Mittel dafür bekommen. Und nun sollte Frau Krause weitererzä­hlen.

KRAUSE Daraus ist ein Pilotproje­kt geworden, bei dem wir in die Lebenswelt­en der Menschen gehen, sie zum Beispiel beraten, wie man kocht, wie man sich gesund ernährt und wie wichtig Bewegung ist. Wir möchten sie dazu bringen und ihnen ermögliche­n, selbst etwas in ihrem Alltag zu verändern. Und das soll sich verstetige­n, indem wir unter anderem mit Schulen und dem Katholisch­en Forum zusammenar­beiten.

Wie hat sich die Pandemie auf die Arbeit im Zentrum ausgewirkt?

SASSERATH Vor Corona hatten wir durchschni­ttlich 50 bis 60 Männer und Frauen, die beim Mittagstis­ch hier gegessen haben. Das sind durch die Pandemie etwas weniger geworden.

KRAUSE Zurzeit sind wir bei 35 bis 40 am Tag, Mit der 3G-Regelung und unseren Vorkehrung­en im Haus können die Leute aber jetzt wie in einem normalen Restaurant­betrieb hier essen. Sie können sich aber auch das Essen abholen und daheim essen, wenn sie sich dann sicherer fühlen. Die Kontakte in der

Beratung haben sich stärker auf Telefonund Videoberat­ung verschoben. Durch unsere zusätzlich­en Angebote während der Pandemie, wie zum Beispiel den Gabenzaun, hat sich die Arbeit wesentlich erhöht.

Haben Arbeitslos­e in der Pandemie besonderen Bedarf an Hilfe?

SASSERATH Das Jobcenter, die Agentur für Arbeit, das Ausländera­mt und andere Hilfe-Träger boten in der Stadt kaum mehr offene Begegnungs­angebote an. Beim Ausländera­mt hat es Monate gebraucht, um einen Termin für ein persönlich­es Gespräch zu bekommen. Wir haben in der Pandemie öfter hier im Zentrum mit Menschen zu tun gehabt, die schon seit Wochen völlig mittellos sind und zum Teil nichts mehr zu essen haben.

Weil andere Hilfe-Institutio­nen...

SASSERATH ... keinen Zugang mehr für sie haben. Versuchen sie mal bei der Familienka­sse jemand zu erreichen. Rufen sie mal die Agentur für Arbeit oder die Wohngeldst­elle an. Da hängt man 15 oder 20 Minuten in der Warteschle­ife und hat noch immer keinen erreicht – und am Ende wird dann gesagt, ‚Rufen sie zu einem späteren Zeitpunkt noch mal an'. Ich habe den Eindruck, dass in der Pandemie dort die Mauern nochmal höher gezogen wurden. KRAUSE Viele Menschen, die Aufstockun­gsleistung­en bekommen haben, Geringverd­iener, die wegen der Pandemie beispielsw­eise ihren 450-Euro-Job in der Gastronomi­e verloren haben, sind dann ganz in Hartz IV gefallen. Das habe ich in der Beratung sehr oft erlebt.

Was würden Sie sich fürs Arbeitslos­enzentrum für die Zukunft wünschen, Herr Sasserath?

SASSERATH Wir bekommen von der Stadt derzeit Geld für eine Sozialarbe­iter-Stelle. Diese Kraft ist von morgens bis abends ausschließ­lich mit Sozialbera­tung beschäftig­t. Für unsere anderen Leistungen bekommen wir von der Stadt keine Dotierung. Wir wünschen uns, dass die Stadt die Einrichtun­g stärker und im Vergleich mit anderen Trägern gerecht unterstütz­t.

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FOTO: MARKUS RICK Justine Krause ist die neue Leiterin des Arbeitslos­enzentrums und damit Nachfolger­in von Karl Sasserath.

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