Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Libanesen fürchten einen neuen Bürgerkrieg
ISTANBUL/BEIRUT Nach einem Tag voller Gewalt sprach der libanesische Präsident Michel Aoun aus, was viele der sieben Millionen Menschen in seinem Land befürchten. Die Schießereien auf den Straßen der Hauptstadt Beirut, bei denen am Donnerstag sechs Menschen starben, erinnerten an die Zeit, „die wir nicht vergessen und nie mehr erleben wollten“, sagte Aoun in einer Fernsehansprache. Damit meinte er den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 mit mehr als 100.000 Todesopfern. Seit Donnerstag wächst die Angst vor einem neuen Krieg.
Die tödliche Konfrontation zwischen schiitischen und christlichen Milizen am Donnerstag entzündete sich an einer Demonstration gegen den Ermittlungsrichter Tarek Bitar. Er will herausfinden, wer für die Explosion von Tausenden Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen verantwortlich war, die im vergangenen Jahr 200 Menschen tötete und Teile der Stadt zerstörte. Die schiitische Hisbollah-Miliz wirft Bitar antischiitische Tendenzen vor.
Während der Demonstration der Hisbollah gegen Bitar eröffneten Heckenschützen das Feuer auf die Menge. Die Hisbollah macht die christliche Miliz Lebanese Forces (LF) verantwortlich. Ein Dementi gab es von der LF nicht; einer ihrer Anführer sagte laut Medienberichten, man müsse der Hisbollah „eine Lehre erteilen“. Vertreter der verfeindeten Lager riefen ihre Anhänger zur Ruhe auf. Am Freitag blieben Schulen, Banken und Behörden geschlossen.
Von einem „gefährlichen Momentum“spricht Kristof Kleemann, Leiter des Beiruter Büros der FriedrichNaumann-Stiftung. Seine Wohnung liegt weniger als einen Kilometer von dem Platz entfernt, auf dem am Donnerstag gekämpft wurde – er konnte die Schüsse hören. „Viele fühlen sich an den Beginn des Bürgerkrieges 1975 erinnert“, sagte Kleemann unserer Zeitung. Die Schießerei an einer Grenzlinie zwischen schiitischen und christlichen Gebieten von Beirut war nach seiner Einschätzung auch eine Machtdemonstration der christlichen LF gegenüber der Hisbollah: „Bis hierher und nicht weiter“, sei die Botschaft gewesen. Er glaube aber nicht, dass ein neuer Bürgerkrieg unmittelbar bevorstehe: Keine der Konfliktparteien habe derzeit ein Interesse an einem Krieg.
Das gilt auch für die Hisbollah, die mit ihren Tausenden Kämpfern und ihrem riesigen Waffenarsenal im Libanon einen Staat im Staat bildet und ihre Machtposition nicht zuletzt der derzeitigen politischen Ordnung verdankt. Die Hisbollah ist die mächtigste nichtstaatliche Organisation in dem kleinen Land, in dem sich Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen nach einem ausgeklügelten Schlüssel die Macht teilen. Dieses System sollte dem Staat bei aller religiösen Vielfalt – insgesamt sind 18 verschiedene
Gruppen offiziell anerkannt – Stabilität verleihen, führte aber zu Korruption und Machtmissbrauch.
Trotz der vielen Toten und gewaltigen Zerstörungen durch die Explosion im Hafen ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Richter Bitar will das ändern und hat sich damit die Hisbollah und die halbe Regierung zu Feinden gemacht. Seine Ermittlungen könnten zu heftigen Konflikten führen, so Kleemann. Die Hisbollah und die mit ihr verbündete Amal-Partei fühlten sich durch die Nachforschungen bedroht, weil unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen könnten. Das wiederum könnte die Machtposition der Hisbollah im Libanon untergraben. Nach Medienberichten war das Ammoniumnitrat im Hafen für sie bestimmt.