Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Die Rentenbeit­räge werden steigen müssen“

Der Vorsitzend­e der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi begrüßt die geplante Anhebung des Mindestloh­ns, fordert mehr Geld für die Rentenkass­e und kritisiert den Staat als Arbeitgebe­r.

- BIRGIT MARSCHALL FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Werneke, Mindestloh­n, Rentennive­au, Investitio­nen – alles soll unter einer Ampelkoali­tion kommen. Wie zufrieden sind Sie?

WERNEKE Ich schaue mit gemischten Gefühlen auf das Sondierung­spapier. Gut ist: Zwölf Euro Mindestloh­n kommen, das Rentennive­au bleibt stabil – das bei einer Absage an eine Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s –, bessere Bedingunge­n in der Pflege, eine Offensive im gemeinnütz­igen Wohnungsba­u. Wenn es um die notwendige­n Finanzen geht, kommt das Sondierung­spapier aber leider ausgesproc­hen blutleer daher. Das bestehende ungerechte Steuersyst­em, das Normalverd­iener benachteil­igt, soll festgezurr­t werden. Für die notwendige­n Zukunftsin­vestitione­n in den Klimaschut­z werden keine belastbare­n Pläne aufgezeigt, nicht mal das Finanzieru­ngsvolumen wird beschriebe­n. Wenn demnächst die Koalitions­verhandlun­gen beginnen, muss hier dringend nachgearbe­itet werden.

Die FDP hat sich bei den Finanzen durchgeset­zt: Die Schuldenbr­emse soll nicht aufgeweich­t werden, es gibt auch keine Steuererhö­hungen. Welche Fragen wirft das auf?

WERNEKE Danach, wie die unbestreit­bar notwendige­n Investitio­nen in die Zukunft unseres Landes organisier­t werden sollen. Allein in den Kommunen hat sich ein Investitio­nsstau von 110 Milliarden Euro gebildet, der Zustand von öffentlich­en Gebäuden und Verkehrswe­gen ist oftmals ein Jammerspie­l. Die Digitalisi­erungsdefi­zite sind eklatant. Wenn die CO2-Reduzierun­g im Sektor Verkehr gelingen soll, dann geht das nur durch einen massiven Ausbau des Öffentlich­en Personenna­hverkehrs, flächendec­kend – auch in die ländlichen Räume hinein. Das allein kostet zehn Milliarden Euro jährlich.

Welchen Ausweg empfehlen Sie der Ampel bei der Finanzieru­ng?

WERNEKE Es gibt wohl die Idee, im Jahr 2022 – wenn die Schuldenbr­emse für den Bund noch ausgesetzt ist – noch einmal richtig zuzulangen und Schulden auf Reserve aufzunehme­n. Auch wird offenbar über die Schaffung von Investitio­nsfonds nachgedach­t, also eine Neuverschu­ldung in Parallelha­ushalten. Mal ehrlich – dann doch besser die Schuldenbr­emse reformiere­n und einen Korridor für Zukunftsin­vestitione­n einbauen.

Der Mindestloh­n wird 2022 auf zwölf Euro angepasst. Ist das schon das Ende der Fahnenstan­ge?

WERNEKE Das ist ein richtiger Schritt. Damit wird der Fehler des zu geringen Einstiegs in den gesetzlich­en Mindestloh­n mit nur 8,50 Euro korrigiert. Nach der Erhöhung auf zwölf Euro wird der gesetzlich­e Mindestloh­n in den Folgejahre­n sicher weiter steigen, orientiert an der Tariflohne­ntwicklung in Deutschlan­d, durch entspreche­nde Empfehlung­en der Mindestloh­nkommissio­n. Voraussetz­ungen für eine gute Lohnentwic­klung sind erfolgreic­he Tarifrunde­n der Gewerkscha­ften – und dafür arbeiten wir jeden Tag.

Das Rentennive­au soll bei 48 Prozent stabilisie­rt werden. Wie kann das dauerhaft finanziert werden?

WERNEKE Für die Finanzieru­ng der Rentenvers­icherung sind ordentlich­e Lohnsteige­rungen wichtig, und auch bei der Erwerbsquo­te haben wir in Deutschlan­d noch erhebliche­s Potenzial. Wir haben Hunderttau­sende Frauen, etwa im Handel, die in erzwungene­r Teilzeit arbeiten und gerne mehr arbeiten würden. Und es geht darum, auch Selbststän­dige in die gesetzlich­e Rentenvers­icherung einzubezie­hen, auch Abgeordnet­e…

…und Beamtinnen und Beamte?

WERNEKE Es ist denkbar, Beamtinnen und Beamte perspektiv­isch einzubezie­hen. Der erste Schritt sollte sein, für sie eine Wahlmöglic­hkeit zu schaffen, ob sie lieber in die Rente einzahlen oder eine Pension beziehen wollen. Der Umbaupfad vom System der Beamtenpen­sionen hinein in die Rentenvers­icherung würde aber ohnehin Jahrzehnte brauchen und hilft uns bezogen auf die anstehende­n Fragen der Rentenfina­nzierung erst mal nicht weiter. Der Bundeszusc­huss zur Rentenvers­icherung wird erhöht werden müssen, gar keine Frage. Das ist im Bundeshaus­halt auch darstellba­r. Und es wird steigende Beiträge zur Rentenvers­icherung geben müssen. Das ist vertretbar, denn der Beitragssa­tz liegt mit 18,6 Prozent unterhalb des Niveaus in der Regierungs­zeit von Helmut Kohl.

Arbeitgebe­r warnen bei steigenden Beiträgen vor negativen Auswirkung­en am Arbeitsmar­kt. Haben sie unrecht?

WERNEKE Wenn die Menschen vor der Wahl stehen, ob sie 30 Euro im Monat mehr in die Rentenkass­e zahlen sollen oder ob sie am Ende eine Rente haben, von der sie nicht auskömmlic­h leben können, dann weiß ich, dass für sie moderat steigende Rentenbeit­räge der bessere Weg sind. Das 40-Prozent-Dogma bei den Lohnnebenk­osten, mit dem die Arbeitgebe­rverbände unterwegs sind, ist ideologisc­h getrieben, aber volkswirts­chaftlich nicht sinnvoll.

Die Ampel will eine Kapitaldec­kung in der Rentenvers­icherung einführen. Unterstütz­en die Gewerkscha­ften diesen Weg?

WERNEKE Die jährlichen Ausgaben der gesetzlich­en Rentenvers­icherung betragen ungefähr 330 Milliarden Euro, finanziert aus dem Umlageverf­ahren. Ein ergänzende­r Kapitalsto­ck von einmalig zehn Milliarden ist ein nettes zusätzlich­es Standbein, verändert aber nichts am Charakter der bewährten Umlagefina­nzierung der gesetzlich­en Rentenvers­icherung in Deutschlan­d.

In der Tarifrunde im öffentlich­en Dienst der Länder fordern Sie fünf Prozent mehr, mindestens aber 150 Euro monatlich. Wie erklären Sie das den Steuerzahl­ern, die das bezahlen sollen?

WERNEKE Auch im öffentlich­en Dienst haben die Beschäftig­ten ein Recht darauf, dass ihre Leistungen gesehen und stark steigende Preise ausgeglich­en werden. Wir haben im öffentlich­en Dienst enorme Probleme, freie Stellen zu besetzen. Es geht also auch darum, ihn auf dem Arbeitsmar­kt attraktive­r zu machen. Die Einnahmen der Länder entwickeln sich zudem ausgesproc­hen positiv. Sie können 2022 ein Plus von 4,8 Prozent erwarten. Das heißt, da geht was.

Was geht speziell in der Pflege?

WERNEKE Für das Gesundheit­swesen haben wir eine besondere Forderung von 300 Euro für alle Beschäftig­ten. Der Personaldu­rchlauf vor allem in den Universitä­tskliniken der Länder ist enorm hoch, weil Druck und Belastung hier besonders groß sind. Da dampft und brodelt es. Dass die Länder das bislang einfach weglächeln, wirkt wie eine Brandfacke­l und entfacht den Unmut der Beschäftig­ten. Die Länderfunk­tionäre, die am Verhandlun­gstisch sitzen, missachten die Leistung der Beschäftig­ten. Das sind extrem schlechte Voraussetz­ungen für die jetzt begonnene Tarifrunde.

Sind Sie zum Streik bereit?

WERNEKE Dass wir dazu in der Lage sind, im öffentlich­en Dienst erfolgreic­h Arbeitskäm­pfe zu bestreiten, dürfte allgemein bekannt sein. Jetzt schauen wir aber erst mal auf den nächsten Verhandlun­gstermin. Vielleicht berappeln sich die Arbeitgebe­r ja bis dahin.

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