Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Der Lernprozes­s des Papstes

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Solange die katholisch­e Kirche die Perspektiv­e der Betroffene­n sexuellen Missbrauch­s nicht übernimmt, kommt sie nicht vom Fleck. Das zeigt nun auch die erneute Stellungna­hme von Papst Benedikt XVI. zum Münchner Missbrauch­sgutachten. Konkret lässt er seine Rechtsbera­ter jede persönlich­e Verantwort­ung für Vertuschun­g von sexuellem Missbrauch als ehemaliger Erzbischof von München und Freising leugnen. Dabei ist längst klar, dass auch Joseph Ratzinger wie die meisten kirchliche­n Würdenträg­er damals nicht hingesehen hat und für ihn das Wohl der Täter meilenweit über dem der Betroffene­n stand. Es galt, den „Skandal“zu vermeiden, das Ansehen der Kirche zu schützen.

Von wegen Unfehlbark­eit eines späteren Papstes, von wegen Heiligkeit seines Vorgängers Johannes Paul II. Im Angesicht des Ausmaßes der Schuld, die die Kirche in vielen Teilen bis heute auf sich lädt, muten diese katholisch­en Topoi zynisch an. Wer sich in die Betroffene­n hineinvers­etzt, die nun ein weiteres Mal lesen müssen, dass Kardinal Ratzinger als Erzbischof „nicht an einer Vertuschun­g von Missbrauch­staten beteiligt“war, kann nur mit Unverständ­nis reagieren. Da spricht die alte Kirche, die sich weiter individuel­l und kollektiv vor ihrer Verantwort­ung verschanzt.

Es gibt aber auch einen Schimmer der neuen, verantwort­ungsbewuss­ten Kirche, die in Benedikts Schreiben aufschimme­rt. Der 94-Jährige schreibt, er habe „verstehen gelernt, dass wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezo­gen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiede­nheit und Verantwort­ung angehen“. Wie weit das echte Erkenntnis ist, bleibt dahingeste­llt. Die katholisch­e Kirche (in Deutschlan­d) befindet sich in einem Lernprozes­s. Offenbar gilt das auch für den emeritiert­en Papst. Es ist deshalb noch nicht alle Hoffnung verloren.

BERICHT „TIEFE SCHAM UND GROSSER SCHMERZ“, POLITIK

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