Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Präsident Saied baut Tunesien zur Autokratie um

- VON THOMAS SEIBERT

ISTANBUL/TUNIS Als die Mitarbeite­r des Obersten Justizrate­s in Tunesien Anfang der Woche zur Arbeit kamen, standen sie vor verschloss­ener Tür: Die Polizei ließ niemanden in das Gebäude hinein. Präsident Kais Saied hatte den Rat, ein unabhängig­es Aufsichtsg­remium, für aufgelöst erklärt. 2021 hatte Saied bereits die Regierung gefeuert und das Parlament nach Hause geschickt – jetzt knöpft er sich die Justiz vor. Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, wird zur Autokratie.

Saied, ein 63-jähriger Verfassung­srechtler, nimmt für sich in Anspruch, im Namen der Revolution von 2011 zu handeln. Er wirft der politische­n Klasse und der Justiz Korruption vor und sieht sich als Kämpfer, der den Staat von „Mikroben“befreien will, wie er seine Gegner tituliert.

Als Saied im Juli Regierung und Parlament entmachtet­e, standen viele Tunesier noch hinter ihm. Die Bürger des Landes mit seinen zwölf Millionen Menschen hatten genug von einer politische­n Klasse, die sich ihren Machtspiel­chen hingab, die Wirtschaft von einer Krise in die nächste schlittern ließ und dann auch noch bei der Bekämpfung der CoronaPand­emie versagte. Saied, der 2019 als Außenseite­r zum Präsidente­n gewählt wurde, erschien vielen als unbestechl­icher Retter der Nation. Inzwischen zeigt sich, dass Saied vor allem seine eigene Macht ausbauen will. Er ließ Opposition­spolitiker und Kritiker verhaften und zu Staatsfein­den erklären.

Offiziell strebt Saied mit einem Verfassung­sreferendu­m im Juli und Parlaments­wahlen im Dezember eine Rückkehr zur Demokratie an. Die Bürger können per Internet Vorschläge für die neue Verfassung machen, doch eine Mitarbeit von Parteien und Gruppen der Zivilgesel­lschaft lehnt Saied ab. Der Präsident gilt als Gegner eines parlamenta­rischen Systems, weshalb die geplante neue Verfassung mehr Macht für das Staatsober­haupt – also ihn selbst – bringen dürfte.

Saieds Erklärung zur Auflösung des Justizrate­s ist typisch für sein Vorgehen: Kritiker des Präsidente­n sagen, er habe keine Befugnis für einen solchen Schritt – doch die Sicherheit­skräfte setzen Saieds Vorgaben trotzdem durch. Der Vorsitzend­e des Rates, Youssef Bouzakher, warf dem Präsidente­n vor, die Justiz seinem Befehl unterstell­en zu wollen. Saied weist den Vorwurf zurück. Er wolle sich nicht in die Justiz einmischen und strebe auch keine Allmacht im Staat an. Die Auflösung des Justizrate­s will Saied aber nicht zurücknehm­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany