Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Präsident Saied baut Tunesien zur Autokratie um
ISTANBUL/TUNIS Als die Mitarbeiter des Obersten Justizrates in Tunesien Anfang der Woche zur Arbeit kamen, standen sie vor verschlossener Tür: Die Polizei ließ niemanden in das Gebäude hinein. Präsident Kais Saied hatte den Rat, ein unabhängiges Aufsichtsgremium, für aufgelöst erklärt. 2021 hatte Saied bereits die Regierung gefeuert und das Parlament nach Hause geschickt – jetzt knöpft er sich die Justiz vor. Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, wird zur Autokratie.
Saied, ein 63-jähriger Verfassungsrechtler, nimmt für sich in Anspruch, im Namen der Revolution von 2011 zu handeln. Er wirft der politischen Klasse und der Justiz Korruption vor und sieht sich als Kämpfer, der den Staat von „Mikroben“befreien will, wie er seine Gegner tituliert.
Als Saied im Juli Regierung und Parlament entmachtete, standen viele Tunesier noch hinter ihm. Die Bürger des Landes mit seinen zwölf Millionen Menschen hatten genug von einer politischen Klasse, die sich ihren Machtspielchen hingab, die Wirtschaft von einer Krise in die nächste schlittern ließ und dann auch noch bei der Bekämpfung der CoronaPandemie versagte. Saied, der 2019 als Außenseiter zum Präsidenten gewählt wurde, erschien vielen als unbestechlicher Retter der Nation. Inzwischen zeigt sich, dass Saied vor allem seine eigene Macht ausbauen will. Er ließ Oppositionspolitiker und Kritiker verhaften und zu Staatsfeinden erklären.
Offiziell strebt Saied mit einem Verfassungsreferendum im Juli und Parlamentswahlen im Dezember eine Rückkehr zur Demokratie an. Die Bürger können per Internet Vorschläge für die neue Verfassung machen, doch eine Mitarbeit von Parteien und Gruppen der Zivilgesellschaft lehnt Saied ab. Der Präsident gilt als Gegner eines parlamentarischen Systems, weshalb die geplante neue Verfassung mehr Macht für das Staatsoberhaupt – also ihn selbst – bringen dürfte.
Saieds Erklärung zur Auflösung des Justizrates ist typisch für sein Vorgehen: Kritiker des Präsidenten sagen, er habe keine Befugnis für einen solchen Schritt – doch die Sicherheitskräfte setzen Saieds Vorgaben trotzdem durch. Der Vorsitzende des Rates, Youssef Bouzakher, warf dem Präsidenten vor, die Justiz seinem Befehl unterstellen zu wollen. Saied weist den Vorwurf zurück. Er wolle sich nicht in die Justiz einmischen und strebe auch keine Allmacht im Staat an. Die Auflösung des Justizrates will Saied aber nicht zurücknehmen.