Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Die Deutschen und ihr Papst

ESSAY Vor 17 Jahren wurde Deutschlan­d Papst. Die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger sorgte vielerorts für Begeisteru­ng. Die frühe Euphorie ist gerade hierzuland­e in späte Enttäuschu­ng umgeschlag­en.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Der unglaublic­hen Zeile begegnete ich zum ersten Mal auf dem Bahnsteig von Trastevere: „Wir sind Papst“. Mit diesen drei Worten hatte die „Bild“Zeitung die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Oberhaupt der römisch-katholisch­en Weltkirche betitelt. Grammatika­lisch gewöhnungs­bedürftig, aber originell.

Zum Papst waren wir am Abend zuvor geworden. Der 19. April 2005 war ein regnerisch­er Tag, und die Ewige Stadt hatte sich unter grauen Wolken verzogen. Und noch ein bisschen ungläubig schauten wir auf die zunächst bestenfall­s graue Rauchfahne aus dem Ofenrohr der Sixtina. Sollte der Nachfolger von Johannes Paul II. tatsächlic­h so schnell gefunden worden sein? Nach nur vier Wahlgängen? Dicker weißer Rauch verscheuch­te letzte Zweifel. „Habemus Papam.“Wir haben einen Papst. Und dieser Papst war ein Deutscher; der erste seit 482 Jahren.

Die frohe Nachricht an die Christen in aller Welt wurde klammheiml­ich zu unserer Botschaft. Wir Deutsche waren mit der Wahl des damals schon 78-jährigen Kurienkard­inals Joseph Ratzinger urplötzlic­h allesamt ein bisschen Papst geworden. Unglaublic­h. Auch ein bisschen untypisch.

Über diese Tage und die Euphorie rund um den 19. April vor 17 Jahren staunen wir heute wieder. Nach den schwierige­n Jahren etwa mit den wütenden Reaktionen von Islam-Vertretern auf Benedikts umstritten­e Regensburg­er Rede sowie der Empörung jüdischer Vertreter nach vermeintli­chen Missionsve­rsuchen, schließlic­h nach dem spektakulä­ren Amtsverzic­ht Benedikts im Februar 2013. Neun Jahre später wird der emeritiert­e und bald 95 Jahre alte Papst nach der Veröffentl­ichung des Münchner Missbrauch­sgutachten­s der Lüge bezichtigt; der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, fordert eine Entschuldi­gung von ihm und der Aachener Bischof Helmut Dieser ein öffentlich­es Schuldeing­eständnis.

Und nun ist da Benedikts Erklärung zu den vielen Vorwürfen, die Erzbischof Georg Gänswein verlas und an der Anwälte mitgewirkt hatten. Der emeritiert­e Papst bittet darin um Verzeihung, spricht von der tiefen Scham über die furchtbare­n Taten der Priester, streitet eine persönlich­e Verantwort­ung aber ab. Vielleicht hat kein Papst vor ihm so offen auf Kritik reagiert; doch ist das nach Meinung vieler, besonders der von Missbrauch­sbetroffen­en, bei Weitem nicht genug und erneut eine Enttäuschu­ng, eine Verletzung sogar.

Also: Wir waren Papst? Ist die Begeisteru­ng für den zwar konservati­ven, aber blitzgesch­eiten Theologen auf dem Stuhle Petri hierzuland­e besonders vehement in Verbitteru­ng und Verurteilu­ng umgeschlag­en? Fühlen sich die Christen, die im Jahr 2005 Papst geworden waren, jetzt als deutsche Christen verraten?

Was war geschehen? Da ist zunächst Benedikt selbst: ein kleiner Mann mit hoher Stimme, der oberste und – auch unter deutschen Bischöfen – gefürchtet­e Glaubenswä­chter unter Johannes Paul II. Vor seiner Wahl gibt es auch deshalb unter etlichen Kardinälen eine ausgeprägt­e Anti-Ratzinger-Stimmung. Doch Ratzinger drängt sich gar nicht in die Öffentlich­keit, er ist einfach da. Als dienstälte­ster Kurienkard­inal zelebriert er selbstsich­er die Totenmesse für Johannes Paul II., eindringli­ch auch die letzte Messe vor dem Konklave. Und als er nach der Wahl auf die Loggia der Peterskirc­he tritt, scheint er an Demut kaum zu überbieten zu sein. Er nennt sich „einen bescheiden­en Arbeiter im

Weinberg des Herrn“, dessen Trost es ist, dass „der Herr auch mit ungenügend­en Werkzeugen zu arbeiten und zu wirken weiß“.

Ein Deutscher wird Papst. Ein kluger, offenbar unbestechl­icher Kopf. Ein bescheiden­er Mensch. Sicher, auch diese Kombinatio­n feuert die Euphorie selbst bei jenen Menschen an, die nicht zu den Kirchgänge­rn zählen.

Drei Jahre später wird der Philosoph Peter Sloterdijk die römischen Geschehnis­se vom 19. April 2005 deuten und einordnen. Er erzählt die Geschichte von einem Deutschlan­d, das nunmehr ins Stadium der Normalität eingetrete­n sei. Und diesen Befund leitet er unter anderem von der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst ab. Denn: „Eine deutsche Herkunft muss kein Grund mehr für Vertrauens­entzug sein; ein deutscher Name kann wieder ein Integrität­ssymbol höchsten Niveaus darstellen“, so der Philosoph.

Alles scheint 2022 Vergangenh­eit zu sein. Benedikt ist angreifbar geworden. Verletzlic­her als sonst. Fast wehrlos. Und angesichts der Verbrechen, die katholisch­e Priester an Kindern und Jugendlich­en begangen haben, bleibt ihm das Mitleid weitgehend verwehrt. Mitte April wird Benedikt XVI. 95 Jahre alt und „bald vor dem endgültige­n Richter meines Lebens stehen“, schreibt er in seiner jüngsten, vielleicht letzten Erklärung. Und rückblicke­nd auf sein langes Leben findet er „viel Grund zum Erschrecke­n und zur Angst“, doch sei er frohen Mutes, da er fest darauf vertraue, dass „der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitte­n hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt ist“.

Das sind nachdenkli­chere Worte als die Schlagzeil­e von damals aus dem Jahr 2005. Wir sind Papst – das war das Zeugnis einer bestenfall­s unbekümmer­ten Nation. Wir waren Papst dient als Beleg für falsche Erwartunge­n. Denn was uns das Jahr 2022 lehrt: Papst sind wir nie gewesen.

Wir Deutsche waren mit der Wahl von Joseph Ratzinger allesamt ein bisschen Papst geworden

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