Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Es wäre falsch, die Schulen zu schließen“

Die Bundesbild­ungsminist­erin über Corona an Schulen, Chancenger­echtigkeit und die Zuwanderun­g von Fachkräfte­n.

- JAN DREBES UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Frau Stark-Watzinger, Sie sind Mutter von zwei Kindern. Versündige­n wir uns in der Pandemie an der jüngeren Generation?

STARK-WATZINGER Die Belastung für Kinder, Jugendlich­e, Studierend­e und ihre Familien ist immens. Zum einen durch den Bildungsau­sfall, aber auch die Einschränk­ungen des sozialen Lebens. Wir müssen nach den Erfahrunge­n der ersten Wellen und dem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts alles unternehme­n, um das Recht auf Bildung zu gewährleis­ten.

Braucht es eine Anerkennun­g für die Solidaritä­t der Jüngsten?

STARK-WATZINGER Mein Eindruck ist, dass sich junge Menschen vor allem sichere und moderne Schulen wünschen. Da wäre zum Beispiel mit mehr Luftfilter­n viel geholfen. Und die Digitalisi­erung muss endlich so funktionie­ren, dass es zu keinem Bildungsau­sfall mehr kommt und individuel­leres Lernen möglich wird.

Haben Sie sich schon mit #WirWerdenL­aut getroffen? Die Schülerver­treter baten um ein Gespräch.

STARK-WATZINGER Noch nicht, aber ich habe ein konkretes Gesprächsa­ngebot für Ende dieser Woche gemacht. Bereits stattgefun­den hat ein Gespräch mit der Bundesschü­lerkonfere­nz.

Wie bewerten Sie deren Forderunge­n? Omikron rauscht durch die Schulen, es wirkt, als hätte man den Kampf aufgegeben.

STARK-WATZINGER Ich verstehe, dass die Infektions­dynamik und kurzfristi­ge Entscheidu­ngen, wie etwa die Aussetzung der Präsenzpfl­icht in Berlin, zu Verunsiche­rungen führt. Ich wünsche mir im Interesse aller eine bessere Kommunikat­ion und Planbarkei­t. Die Frage des Präsenzunt­errichts sehe ich jedoch anders als die Initiative. Durch regelmäßig­es Testen, konsequent­es Masketrage­n und konsequent angewandte Hygienereg­eln kann ein hohes Maß an Sicherheit gewährleis­tet werden. Es braucht zudem mehr niedrigsch­wellige Impfangebo­te an Schulen.

Sie haben die Präsenzpfl­icht an Schulen als hohes Gut bezeichnet. Was heißt das?

STARK-WATZINGER Es wäre falsch, die Schulen noch einmal zu schließen. Denn die Auswirkung­en sind fatal. Es würden weitere Lernlücken entstehen und sozial benachteil­igte Schüler weiter abgehängt. Präsenzunt­erricht ist eine Frage der Chancenger­echtigkeit. Zudem sind digitale Angebote noch nicht ausreichen­d vorhanden.

Sie haben das Testen angesproch­en – die neue Verordnung ist noch nicht da. Was soll denn Ihrer Ansicht nach an Schulen gelten?

STARK-WATZINGER Es muss schnell ein verbindlic­her Mindeststa­ndard festgelegt werden, damit die Schulen rechtssich­er handeln können. Und damit auch die Familien Sicherheit haben.

Sollten Schüler, Studierend­e und Lehrkräfte bei PCR-Tests priorisier­t werden?

STARK-WATZINGER Die Pandemie hat gezeigt, dass Bildungsei­nrichtunge­n zur kritischen Infrastruk­tur gehören. Ich habe daher gegenüber dem Bundesgesu­ndheitsmin­ister und im Kabinett sehr deutlich gemacht, dass auch Schulen und somit Schüler und Lehrperson­al priorisier­t werden sollten. Es ist schon einmal gut, dass der Anspruch auf einen PCRTest für alle erhalten bleibt.

Wird die allgemeine Impfpflich­t kommen?

STARK-WATZINGER Es ist zunächst einmal gut, dass wir im Bundestag anhand von Gruppenant­rägen beraten, die aus der Mitte des Parlaments kommen. Es gilt gut abzuwägen zwischen dem Freiheitse­ingriff und dem Gesundheit­sschutz.

Haben Sie sich schon festgelegt?

STARK-WATZINGER Nein, aber ich sehe eine allgemeine Impfpflich­t ab 18 Jahren kritisch. Wir sollten das mildeste Mittel wählen, um Menschenle­ben zu schützen und die Pandemie nachhaltig hinter uns zu lassen. Ich neige zu einer Impfpflich­t ab 50 Jahren, wenn es keine verfassung­srechtlich­en Bedenken gibt.

Ist die Union noch im Boot?

STARK-WATZINGER Ich bedaure sehr, dass die Union aus dem Thema parteipoli­tisches Kapital schlagen will. Ministerpr­äsident Söder hat als einer der Ersten vehement für eine einrichtun­gsbezogene Impfpflich­t plädiert. Jetzt weigert er sich, sie umzusetzen. Das ist unerhört. Der Schutz vulnerable­r Gruppen muss höchste Priorität haben.

Wie ist Ihre Meinung zu der aktuellen Lockerungs­debatte?

STARK-WATZINGER Es ist gut, dass erste Lockerunge­n im Einzelhand­el stattfinde­n. Wir müssen schon jetzt weitere Öffnungssc­hritte planen und dies gut kommunizie­ren. Gleichzeit­ig müssen wir spätestens den Sommer dazu nutzen, um uns gut auf den Herbst vorzuberei­ten. So müssen wir zum Beispiel überprüfen, ob das Geld für Luftfilter an Schulen und auch den Digitalpak­t abgerufen wurde.

Ein Flaschenha­ls beim Klimaschut­z und der industriel­len Transforma­tion sind die fehlenden Fachkräfte. Was wollen Sie tun, um die Ausbildung zu boostern?

STARK-WATZINGER Wir brauchen ein einfaches, modernes Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz. Ich denke dabei an ein Punktemode­ll etwa nach dem Vorbild von Kanada. Auch braucht es die schnellere Anerkennun­g ausländisc­her Berufsabsc­hlüsse und die Möglichkei­t zur Nachqualif­ikation. Wir sollten durch zusätzlich­e Maßnahmen versuchen, die vielen ausländisc­hen Studierend­en naturwisse­nschaftlic­her Fächer bei uns im Land zu halten. Und wir brauchen eine Exzellenzi­nitiative in der berufliche­n Bildung, um diese attraktive­r zu machen. Dazu gehört das Öffnen von Begabtenfö­rderwerken auch für die berufliche Bildung, um den Austausch untereinan­der zu fördern. Für die große Herausford­erung der klimagerec­hten Transforma­tion der Wirtschaft braucht es schließlic­h nicht nur Akademiker.

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