Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Es wäre falsch, die Schulen zu schließen“
Die Bundesbildungsministerin über Corona an Schulen, Chancengerechtigkeit und die Zuwanderung von Fachkräften.
Frau Stark-Watzinger, Sie sind Mutter von zwei Kindern. Versündigen wir uns in der Pandemie an der jüngeren Generation?
STARK-WATZINGER Die Belastung für Kinder, Jugendliche, Studierende und ihre Familien ist immens. Zum einen durch den Bildungsausfall, aber auch die Einschränkungen des sozialen Lebens. Wir müssen nach den Erfahrungen der ersten Wellen und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts alles unternehmen, um das Recht auf Bildung zu gewährleisten.
Braucht es eine Anerkennung für die Solidarität der Jüngsten?
STARK-WATZINGER Mein Eindruck ist, dass sich junge Menschen vor allem sichere und moderne Schulen wünschen. Da wäre zum Beispiel mit mehr Luftfiltern viel geholfen. Und die Digitalisierung muss endlich so funktionieren, dass es zu keinem Bildungsausfall mehr kommt und individuelleres Lernen möglich wird.
Haben Sie sich schon mit #WirWerdenLaut getroffen? Die Schülervertreter baten um ein Gespräch.
STARK-WATZINGER Noch nicht, aber ich habe ein konkretes Gesprächsangebot für Ende dieser Woche gemacht. Bereits stattgefunden hat ein Gespräch mit der Bundesschülerkonferenz.
Wie bewerten Sie deren Forderungen? Omikron rauscht durch die Schulen, es wirkt, als hätte man den Kampf aufgegeben.
STARK-WATZINGER Ich verstehe, dass die Infektionsdynamik und kurzfristige Entscheidungen, wie etwa die Aussetzung der Präsenzpflicht in Berlin, zu Verunsicherungen führt. Ich wünsche mir im Interesse aller eine bessere Kommunikation und Planbarkeit. Die Frage des Präsenzunterrichts sehe ich jedoch anders als die Initiative. Durch regelmäßiges Testen, konsequentes Masketragen und konsequent angewandte Hygieneregeln kann ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet werden. Es braucht zudem mehr niedrigschwellige Impfangebote an Schulen.
Sie haben die Präsenzpflicht an Schulen als hohes Gut bezeichnet. Was heißt das?
STARK-WATZINGER Es wäre falsch, die Schulen noch einmal zu schließen. Denn die Auswirkungen sind fatal. Es würden weitere Lernlücken entstehen und sozial benachteiligte Schüler weiter abgehängt. Präsenzunterricht ist eine Frage der Chancengerechtigkeit. Zudem sind digitale Angebote noch nicht ausreichend vorhanden.
Sie haben das Testen angesprochen – die neue Verordnung ist noch nicht da. Was soll denn Ihrer Ansicht nach an Schulen gelten?
STARK-WATZINGER Es muss schnell ein verbindlicher Mindeststandard festgelegt werden, damit die Schulen rechtssicher handeln können. Und damit auch die Familien Sicherheit haben.
Sollten Schüler, Studierende und Lehrkräfte bei PCR-Tests priorisiert werden?
STARK-WATZINGER Die Pandemie hat gezeigt, dass Bildungseinrichtungen zur kritischen Infrastruktur gehören. Ich habe daher gegenüber dem Bundesgesundheitsminister und im Kabinett sehr deutlich gemacht, dass auch Schulen und somit Schüler und Lehrpersonal priorisiert werden sollten. Es ist schon einmal gut, dass der Anspruch auf einen PCRTest für alle erhalten bleibt.
Wird die allgemeine Impfpflicht kommen?
STARK-WATZINGER Es ist zunächst einmal gut, dass wir im Bundestag anhand von Gruppenanträgen beraten, die aus der Mitte des Parlaments kommen. Es gilt gut abzuwägen zwischen dem Freiheitseingriff und dem Gesundheitsschutz.
Haben Sie sich schon festgelegt?
STARK-WATZINGER Nein, aber ich sehe eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren kritisch. Wir sollten das mildeste Mittel wählen, um Menschenleben zu schützen und die Pandemie nachhaltig hinter uns zu lassen. Ich neige zu einer Impfpflicht ab 50 Jahren, wenn es keine verfassungsrechtlichen Bedenken gibt.
Ist die Union noch im Boot?
STARK-WATZINGER Ich bedaure sehr, dass die Union aus dem Thema parteipolitisches Kapital schlagen will. Ministerpräsident Söder hat als einer der Ersten vehement für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht plädiert. Jetzt weigert er sich, sie umzusetzen. Das ist unerhört. Der Schutz vulnerabler Gruppen muss höchste Priorität haben.
Wie ist Ihre Meinung zu der aktuellen Lockerungsdebatte?
STARK-WATZINGER Es ist gut, dass erste Lockerungen im Einzelhandel stattfinden. Wir müssen schon jetzt weitere Öffnungsschritte planen und dies gut kommunizieren. Gleichzeitig müssen wir spätestens den Sommer dazu nutzen, um uns gut auf den Herbst vorzubereiten. So müssen wir zum Beispiel überprüfen, ob das Geld für Luftfilter an Schulen und auch den Digitalpakt abgerufen wurde.
Ein Flaschenhals beim Klimaschutz und der industriellen Transformation sind die fehlenden Fachkräfte. Was wollen Sie tun, um die Ausbildung zu boostern?
STARK-WATZINGER Wir brauchen ein einfaches, modernes Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ich denke dabei an ein Punktemodell etwa nach dem Vorbild von Kanada. Auch braucht es die schnellere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und die Möglichkeit zur Nachqualifikation. Wir sollten durch zusätzliche Maßnahmen versuchen, die vielen ausländischen Studierenden naturwissenschaftlicher Fächer bei uns im Land zu halten. Und wir brauchen eine Exzellenzinitiative in der beruflichen Bildung, um diese attraktiver zu machen. Dazu gehört das Öffnen von Begabtenförderwerken auch für die berufliche Bildung, um den Austausch untereinander zu fördern. Für die große Herausforderung der klimagerechten Transformation der Wirtschaft braucht es schließlich nicht nur Akademiker.