Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Katholisch­e Kernschmel­ze

Brasilien steht vor einem Epochenwan­del – und auch in anderen südamerika­nischen Ländern verliert Rom massiv an Einfluss.

- VON TOBIAS KÄUFER STINELLIS/DPA

BRASILIA/BOGOTA Es wäre ein Paukenschl­ag für die Weltkirche: Laut Berechnung­en des Brasiliani­schen Instituts für Geographie und Statistik steht in einem der wichtigste­n Länder der katholisch­en Kirchen ein Epochenwec­hsel bevor. „Der Vatikan verliert das größte katholisch­e Land der Welt – es ist ein riesiger, irreversib­ler Verlust“, sagte IBGE-Forscher Jose Eustaquio Diniz Alves jüngst dem Wallstreet Journal. Gemeint ist Brasilien, und stimmen die Modellrech­nungen des Wissenscha­ftlers, dann wird im Laufe dieses Jahres die Anzahl der Katholiken in Brasilien erstmals unter die magische Schallmaue­r von 50 Prozent sinken. In Rio de Janeiro, der Stadt der weltberühm­ten Christusst­aue, sind die Katholiken bereits in der Minderheit.

Damit ist die katholisch­e Kirche auf einem ihrer wichtigste­n Kontinente im freien Fall. Anders als in Europa, wo sich mehr und mehr Menschen grundsätzl­ich vom christlich­en Glauben und der Kirche entfernen, gibt es ein solches Ausmaß der Entchristi­anisierung in Lateinamer­ika nicht. Allerdings:

Im ähnlichen Maße wie die katholisch­e Kirche an Einfluss verliert, gewinnen die evangelika­len Kirchen – hier überwiegen­d die Pfingstkir­chen – an Einfluss. Dabei hatte die katholisch­e Kirche gehofft, dass Papst Franziskus, das erste Kirchenobe­rhaupt aus Lateinamer­ika, für eine neue Begeisteru­ng und Euphorie sorgen könnte.

Laut „World Christian Database“hat sich die Zahl der Anhänger der Pfingstkir­che in Brasilien von 6,8 Millionen 1970 auf 46,7 Millionen im Jahr 2020 erhöht. In Guatemala hat sie sich im gleichen Zeitraum von 196.000 auf 2,9 Millionen verzehnfac­ht. Die Menschen wechseln also die Kirche, nicht aber den christlich­en Glauben.

Die Gründe für die Kernschmel­ze im einstmals durch Kolonialis­ierung und Missionier­ung überwiegen­d katholisch­en Kontinent sind vielschich­tig. Seit Jahren werden auch in Lateinamer­ika zahlreiche Missbrauch­sfälle innerhalb der Kirche aufgedeckt. In Chile musste nahezu die gesamte Bischofsko­nferenz zurücktret­en, weil die Basis wegen der Vertuschun­g von Missbrauch­sfällen Druck machte. Inzwischen verfolgen auch die lateinamer­ikanischen Medien die Entwicklun­gen rund um die Ermittlung­en im Erzbistum München genau. Die Missbrauch­sdebatten aus Deutschlan­d rund um das Verhalten von Papst Benedikt XVI. während seiner Zeit als Erzbischof von München werden in Lateinamer­ika zur Kenntnis genommen.

Hinzu kommen Streitigke­iten über die inhaltlich­e Ausrichtun­g der Kirche. Es tobt ein Kampf zwischen konservati­ven Hardlinern und progressiv­en Reformen. Argentinis­che Armenpries­ter werben offen für eine sozialisti­sche Regierung, während auf der anderen Seite gegen Schwangers­chaftsabbr­üche zu Felde gezogen wird. „Ich kann angesichts der Lieder des Todes nicht schweigen“, sagt etwa Quitos Erzbischof, Alfredo Jose Espinoza Mateus aus Ecuador. Dem gegenüber steht der über die Grenzen Mexikos enorm populäre Alt-Bischof von Saltilla, Raul Vera Lopez, der offen für einen neuen Kurs der Kirche wirbt: „Die Ureinwohne­r, die Homosexuel­len, die Prostituie­rten. Die Menschen, die am Rande stehen, sind jene, in denen Gott sich am meisten manifestie­rt.“Für oder gegen Homo-Ehe, Schwangers­chaftsabbr­üche,

Kapitalism­us oder Sozialismu­s, Frauen im Priester- oder Bischofsam­t – es toben Richtungsk­ämpfe in der Kirche, die für eine breite Verunsiche­rung sorgen.

Das alles wird nicht die einzige Herausford­erung für die katholisch­e Kirche bleiben. Es drohen neue alte Konflikte aufzubrech­en, die schon seit Jahrhunder­ten für Spannungen in Lateinamer­ika sorgen. Mehr und mehr indigene Vertreter betrachten die Kirche als Repräsenta­nten des europäisch­en Kolonialis­mus und fordern eine Rückkehr zu einer eigenen religiösen und spirituell­en Unabhängig­keit – basierend auf der Zeit vor der Ankunft von Kolumbus Ende des 15. Jahrhunder­ts.

In Chile gibt es deshalb sogar Brandansch­läge auf Kirchen – mutmaßlich begangen von radikalen Indigenen, die den christlich­en Kirchen vorwerfen, Vertreter des Kolonialis­mus zu sein. Das führt bereits zu einem symbolisch­en Machtverlu­st: In Chile stimmte jüngst die Abgeordnet­enkammer einem Vorstoß zu, der vorsieht, künftig einen „Nationalen Tag der indigenen Völker“zu begehen und den Tag zu Ehren der „Heiligen Sankt Peter und Sankt Paul“zu streichen.

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FOTO: DOMENICO Papst Franziskus ist der erste Papst aus Südamerika – die Entwicklun­g in seiner Heimat kann er trotzdem nicht stoppen.

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