Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Zwischen Pflicht und Bürde

Außenminis­terin Annalena Baerbock betont bei ihrer Antrittsvi­site in Israel, dass dessen Sicherheit deutsche Staatsräso­n ist. Dennoch kritisiert sie den aggressive­n Siedlungsb­au. Auch besucht sie die palästinen­sischen Gebiete.

- VON HOLGER MÖHLE

JERUSALEM/RAMALLAH Der Tag ist schon fortgeschr­itten. Wo genau liegt das Problem? Auf dieser Seite der Grenze? Oder auf der anderen? Vermutlich auf beiden. Annalena Baerbock muss jetzt das Fahrzeug wechseln. Grenzüberg­ang Beituniya. Gleich fährt sie rein in Zone B, wo die Israelis die Sicherheit und die Palästinen­ser das zivile Leben kontrollie­ren. Rein in die palästinen­sischen Gebiete, rüber nach Ramallah, wo sie unter anderem Palästinen­serPräside­nt Mahmoud Abbas treffen wird. Sie ist jetzt mittendrin im Nahost-Konflikt, mittendrin in der Krise, die seit Jahrzehnte­n darauf wartet, dass jemand kommt und das Geschenk der Aussöhnung auf den Tisch legt. Und in einer Welt, in der Unordnung die gewohnte Ordnung ist.

An diesem regnerisch­en Tag ist es nur der Verkehr, der für Chaos sorgt. Vorbei an mehreren Checkpoint­s, offenen Baustellen, unfertigen Häusern. Es wird gebaut in Ramallah. Sie haben ihren Bauplan, aber sie finden keinen Friedenspl­an. Nicht für sich. Und nicht mit ihren Nachbarn in Israel. Baerbock wird an diesem Tag ein Gefühl für die verfahrene Lage in Nahost bekommen. Wo nur ist die Ausfahrt Richtung Frieden?

Die deutsche Außenminis­terin hat da den Termin in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem seit Stunden hinter sich. Es war gleich der erste Termin eines extrem eng getakteten Tages. Jerusalem, Tel Aviv, Ramallah, Tel Aviv. Im rasenden Konvoi. In Nahost begegnen ihr Geschichte, Konflikt, Krise und Chance beinahe stündlich. In der vorvergang­enen Woche hat Baerbock im Bundestag der 87 Jahre alten Inge Auerbacher gelauscht, ihrer ebenso berührende­n wie bedrückend­en Geschichte. Auerbacher, die seit Jahrzehnte­n in New York lebt und im badischen Dorf Kippenheim geboren ist, hat das Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt überlebt. Ein Abfallhauf­en, wo sie nach essbaren Kartoffelr­esten gesucht habe, sei als Kind ihr „Spielplatz“gewesen. Baerbock hat beim Grünen-Parteitag vor einer Woche davon noch einmal erzählt – immer noch beeindruck­t. Der Besuch von Baerbock als erster Frau in der Rolle der deutschen Außenminis­terin in der Gedenkstät­te Yad Vashem hat ganz besonderes Gewicht. Er ist Verpflicht­ung, auch Bürde. Hier muss jede Geste sitzen, jedes Wort stimmen, jeder Schritt Würde ausstrahle­n. Baerbock weiß das. Es ist ihr Antrittsbe­such in Israel. Bei Dauerregen. Die Grünen-Politikeri­n war vor gut zehn Jahren schon einmal in Israel. Auf Einladung des Jewish Committee. Da konnte sie noch nicht einmal ahnen, dass sie Jahre später als eine der höchsten Vertreteri­nnen der Bundesrepu­blik Deutschlan­d Israel und Yad Vashem besuchen würde.

Sie steht dort in der Halle der Namen, wo jedem Opfer des Holocaust ein individuel­les Personenbl­att gewidmet ist. Schweigen, stilles Gedenken. Am Denkmal für die ermordeten Kinder sagt sie etwas später: „Als Mutter zweier Töchter stockt mir der Atem.“Für einen Moment hört es sich so an, als stockte ihr die Stimme. Sie schreibt in das Gästebuch den Satz: „Damit die Kinder dieser Erde alle eine Zukunft haben.“Darüber handschrif­tlich ihr Name. „Annalena Baerbock“. Wer später in dem Buch blättert, soll zuordnen können, wer mit welcher Widmung an den Holocaust und seine Opfer erinnert hat.

Die deutsche Außenminis­terin ist auch nach Israel gekommen, um den ins Stocken geratenen Friedenspr­ozess wieder irgendwie ins Laufen zu bringen, mindestens jedoch, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man ihn in Gang bringen könnte. Das ist in diesem seit Jahrzehnte­n dauernden grundlegen­den Konflikt schon ein Anspruch. Sie startet mit der Ankündigun­g: „Ich mache mir natürlich keine Illusion, aber der Status quo führt immer wieder nur aufs Neue in die Eskalation.“

Baerbock will, dass sich das ändert – mit einer verhandelt­en ZweiStaate­n-Lösung als „bester Option für Israelis und Palästinen­ser“. Sie betont zur restriktiv­en Rüstungsex­portpoliti­k der Bundesregi­erung mit Blick auf einen U-Boot-Deal der Vorgängerr­egierung und künftige Rüstungsge­schäfte: „Die Sicherheit Israels ist und bleibt deutsche Staatsrais­on. Dahinter werden wir nicht zurückfall­en.“Die Vergangenh­eit sei der „Auftrag für die Zukunft“. Zur angekündig­ten Verschärfu­ng deutscher Rüstungsex­portpoliti­k sagt die Grünen-Politikeri­n, sie wolle nur nicht deutschen Gesetzen vorgreifen, über die noch nicht einmal im Kabinett diskutiert worden seien. Klar sei aber auch: „Israel muss sich auf Deutschlan­d verlassen können.“

In Tel Aviv trifft Baerbock auf einen derzeit relevanten Vertreter von Israels Gegenwart und womöglich auch Zukunft: Außenminis­ter Jair Lapid von der liberalen Zukunftspa­rtei, der im kommenden Jahr gemäß der Verabredun­g in der Acht-Parteien-Koalition den Posten des Ministerpr­äsidenten von Naftali Bennett übernehmen soll. Zur Zwei-Staaten-Lösung hat er sich bislang offen geäußert. Nur erzählen Beobachter, Lapid sei der Typ von Politiker, der jedem alles verspreche. Beim Siedlungsb­au schenkt Baerbock ihrem Amtskolleg­en Lapid reinen Wein ein: „Wir halten ihn für schädlich und mit dem Völkerrech­t nicht vereinbar.“Dann geht es rüber in die palästinen­sischen Gebiete. Auf die andere Seite der Problemzon­e. Sie wird wiederkomm­en. Denn der Schlüssel, der in das Schloss für die geschlosse­ne Tür zwischen Israel und den palästinen­sischen Gebieten passt, muss doch irgendwo liegen.

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FOTO: FLORIAN GAERTNER/IMAGO Annalena Baerbock in der Halle der Erinnerung der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem.

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