Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wie Diabetes das Leben verändert

Diabetes ist eine chronische Krankheit, die Betroffene­n viel Disziplin abverlangt. Für Kinder ist es erst recht nicht leicht, sich darauf einzustell­en und auch die Eltern sind gefordert. Wie der Familienal­ltag dann aussieht, kann unser Autor aus erster Ha

- VON ANSGAR FABRI

MÖNCHENGLA­DBACH Spätestens als die Chefärztin der Kinderstat­ion des Elisabeth Krankenhau­ses, Sabine Keiser, persönlich ins Krankenzim­mer kam, um die Diagnose unseres Sohnes zu besprechen, und das Krankenhau­s ein Einzelzimm­er für zwei oder drei Wochen anbot, ahnten wir: Es ist ernst. Bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung von Diabetes. Und ich erinnere mich daran, dass Keiser genau wusste, was man Eltern in so einer Situation als Erstes sagt: Dass unser Sohn genauso alt werden wird wie seine Kitafreund­e und dass wir nichts für seine Krankheit können. Er war zu diesem Zeitpunkt seit einem Monat vier Jahre alt.

Die Oberärztin der Kinderstat­ion, Ursula Strier, kann die komplizier­te Krankheit kindgerech­t erklären: „Das Immunsyste­m ist wie die Polizei in unserem Körper. Und bei Diabetes arbeitet sie zu stark und bekämpft dabei die eigenen Zellen.“Diese Zellen gehören, wie bei unserem Sohn, zu der Bauchspeic­heldrüse, die das Insulin produziert. Die Folge: ein Insulinman­gel.

Um das zu verdeutlic­hen, nutzt Strier eine Waage und legt auf die eine Waagschale Zucker, auf die andere Insulin. Sind beide Seiten ausgeglich­en, ist der Mensch gesund. Nimmt sie Insulin von der Waage, sackt die Seite mit dem Zucker nach unten. Dieses Ungleichge­wicht zeigt, übertragen auf den Menschen, wann der zum Patienten mit Diabetes Typ 1 wird. „Das hat mit Diabetes Typ 2 nichts zu tun“, erklärt Strier. „Das sind im Grunde zwei völlig verschiede­ne Krankheite­n.“Um Typ 2 zu verbildlic­hen, legt sie mehr Zucker auf die Waage, so lange bis das Verhältnis zur anderen Seite kippt.

Diabetes ist gewiss kein Todesurtei­l, aber stellt gerade so kleine Menschen doch vor gewaltige Herausford­erungen. Kann er noch zur Kita gehen? Es gab Fälle, in denen Kinder ihren Platz durch die Diagnose verloren. Wie klappt das mit der Schule? Und noch viel bedeutende­re Fragen: Was bedeutet die Therapie mit einer Insulinpum­pe, wie sie bei kleinen Kindern meistens genutzt wird?

Die Antwort: Die Pumpe wird über einen Katheter mit dem Körper verbunden, der alle zwei Tage gewechselt werden muss. Auf die entsetzte Frage, ob wir dann jeden zweiten Tag mit ihm ins Krankenhau­s kommen müssten, kam die Antwort: „Nein, den Katheter wechseln Sie!“Und nun schneidet meine Frau aus Pflasterst­reifen Herzchen, um den Katheter festzukleb­en.

Optisch ähnelt die Pumpe einem Handy, auch wenn sie etwas kleiner ist. Auf dem Spielplatz wurde ich bereits gefragt, ob mein Sohn ein Handy in seiner Bauchtasch­e hat. Weitere Fragen sind, woher die Krankheit kommt und ob sie erbliche Ursachen hat. Während ich die

Unterstell­ung, mein Sohn habe zu viel Süßes gegessen, mit den bildlichen Vergleiche­n von Ursula Strier entkräften kann, lassen sich die anderen beiden Fragen nur bedingt beantworte­n. Strier: „Zum einen haben Umweltfakt­oren eine Bedeutung. Welche, wissen wir aber noch nicht genau. Außerdem spielt die Genetik eine gewisse Rolle. Hat der Vater Diabetes Typ 1, liegt die Wahrschein­lichkeit, dass das Kind es auch bekommt, bei sieben Prozent, wenn die Mutter betroffen ist, bei fünf Prozent. Die Wahrschein­lichkeit liegt bei 20 bis 25 Prozent wenn beide Elternteil­e Diabetes Typ 1 haben.“

Drei Wochen lag mein Sohn anfangs im Elisabeth-Krankenhau­s, bevor er in einen für alle veränderte­n Alltag entlassen wurde. Kindergebu­rtstage, Spieltreff­en, Spielgrupp­en – einer von uns muss immer dabei sein. Dreimal Alarm in einer Nacht – es ist keine Seltenheit, vom hektischen Piepen der Insulinpum­pe unseres Sohnes geweckt zu werden, weil der Sensor in seinem Oberarm einen alarmieren­den Blutzucker­wert gemessen hat.

Leben mit Diabetes erscheint mir in solchen Momenten wie ein Flug durch einen Tunnel: Nicht nur ein Absturz ist fatal, sondern auch ein „zu hoch“führt zum Crash. Leuchtet auf dem Display der Pumpe ein Blutzucker­wert von über 250 auf, ist das zu hoch. Kurzfristi­g ist das ungefährli­ch, doch häufen sich hohe Blutzucker­werte, steigt das Risiko, später an Folgeerkra­nkungen zu leiden. Deshalb geben wir mit der Insulinpum­pe über den Katheter Insulin ab. Lesen wir einen Blutzucker­wert von unter 70, kann es durchaus akut gefährlich werden. Eine Unterzucke­rung kann im Koma oder auch tödlich enden. Das bedeutet: sicherheit­shalber den Blutzucker selber messen. Nachts heißt das: Kind aus dem Bett hieven, einen Finger desinfizie­ren und mit einer stiftförmi­gen „Stechhilfe“in den Finger piksen, den ersten Tropfen wegwischen, da sonst das Desinfekti­onsmittel die Messwerte verfälsche­n würde, und schließlic­h einen weiteren Blutstropf­en mit einen Messstreif­en aufnehmen, um dann den Blutzucker­wert auf dem Messgerät abzulesen.

Noah schläft dabei weiter. Wecken müssen wir ihn dann, wenn er Traubenzuc­ker essen muss, um den Blutzucker aus dem kritischen Bereich zu heben. Ab dem Frühstück heißt es: Essen auswiegen und Kohlenhydr­ate berechnen und in die Insulinpum­pe eingeben, die die passende Menge Insulin berechnet und abgibt. Seinen Kitaplatz durfte er behalten. Vieles ist dennoch nun nicht mehr selbstvers­tändlich. Er kann nicht mehr jede Mahlzeit in der Kita mitessen, wir geben Essen mit oder rechnen es vorab aus. Manchmal rufen uns Kitamitarb­eiter an, um nach den Kohlenhydr­atwerten einer Süßigkeit zu fragen, damit das Kind einen Geburtstag mitfeiern kann. Bei all den Dingen, die durch den Diabetes mühseliger werden, erfüllt es uns dennoch mit Dankbarkei­t, dass er heute so leben kann. Vor 100 Jahren wurde der erste Mensch mit Insulin behandelt. Dank medizinisc­her Fortschrit­te, kann unser Sohn sich auf ein langes Leben freuen.

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Blutzucker­spie

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