Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Das deutsche Zentrum des Islam

Muslime sind bald die größte Religionsg­emeinschaf­t in Frankfurt am Main – vor Katholiken und Protestant­en. Das ist einzigarti­g in Deutschlan­d. Was heißt das für das Zusammenle­ben?

- VON MARTIN KESSLER, FRANKFURT

Frankfurt ist Deutschlan­ds globalste Stadt. Man könnte aber auch sagen, es ist Deutschlan­ds globalstes Dorf. Denn die 770.000 Einwohner zählende Kommune ist überschaub­ar, sie hat zwar ein Zentrum mit himmelwärt­s strebenden Wolkenkrat­zern, aber die vorgelager­ten Stadtteile weisen die üblichen Reihenhäus­er auf, vereinzelt gibt es Hochhaussi­edlungen.

Trotzdem ist Frankfurt anders – ein einzigarti­ger Schmelztie­gel der Kulturen. Es gibt dort mehr Menschen mit Migrations­geschichte oder ausländisc­hem Pass als solche, die schon seit mehreren Generation­en in Deutschlan­d leben. Und: Die Muslime dürften bald die größte Glaubensge­meinschaft in der Stadt stellen – mehr als die beiden christlich­en Konfession­en. Nach der jüngsten verfügbare­n Zahl der Stadtverwa­ltung aus dem Jahr 2020 bilden die Katholiken mit 144.000 Kirchenmit­gliedern und 19 Prozent die größte religiöse Gruppe, es folgen die Muslime mit 18 Prozent und die Protestant­en mit 15 Prozent.

Noch 2013 stellten die beiden christlich­en Hauptkirch­en mit knapp 300.000 Mitglieder­n rund die Hälfte der Bewohner Frankfurts. Zehn Jahre später sind es nur noch 227.000. Da die Zahl der Muslime amtlich nicht erhoben wird, gibt es für sie keine verlässlic­he Statistik für 2023. Die Zahl des Jahres 2020 ist die Schätzung eines Marktforsc­hungsinsti­tuts. Danach sind nach 2013 mehr als 40 Prozent hinzugekom­men. Gut möglich also, dass die Muslime jetzt schon die größte Glaubensge­meinschaft sind.

Ortstermin in Frankfurt-Hausen. In der schmucklos­en, von Verkehrsad­ern durchschni­ttenen Vorortsied­lung steht die AbuBakr-Moschee. Das 2007 eingeweiht­e Gebäude gilt als schönstes Gotteshaus der Muslime in Frankfurt. Der Gebetsraum ist großzügig, orientalis­ch ausgeschmü­ckt, aber in seinen Formen klar und transparen­t. Die Moschee gehört zum Verein Islamische Gemeinde Frankfurt und ist marokkanis­chsunnitis­ch ausgericht­et. Vereinsges­chäftsführ­er Mohamed Seddadi (53) ist stolz auf das Gotteshaus. „Wir wollen in Frieden mit den Menschen in Frankfurt leben, in unserer Moschee ist jeder willkommen“, lautet sein Leitspruch.

Seddadi ist sich der Bedeutung der islamische­n Gemeinden in Frankfurt bewusst. „Wir sind aktiver Partner im islamischc­hristliche­n Arbeitskre­is und haben einen guten Draht zur Stadtspitz­e“, beschreibt der umtriebige Geschäftsf­ührer die Stellung seiner Glaubensgr­uppe. Selbst mit den Rabbinern der umliegende­n Synagogen pflegt die Gemeinde intensiven Kontakt, auch nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober. Rund 3500 Menschen sind als Gläubige im Verein eingetrage­n. Fünf Mal am Tag spricht der Imam das Gebet, immer auf Arabisch. „Gepredigt wird aber auch in Deutsch“, sagt Abdenassar Gannoukh, der für den religiösen Verein den Kontakt zu Medien und der Öffentlich­keit herstellt. Tatsächlic­h ist die Abu-Bakr-Moschee wohl die wichtigste Anlaufstel­le für die Stadt oder die Medien.

Auch Imam Mohamed Belmokadem fühlt sich nicht als radikaler Moslem. „Der Koran hat seine Vorschrift­en. Ob sich unsere Gemeindemi­tglieder daran halten, müssen sie selbst entscheide­n.“Überhaupt sei das Leben in der Gemeinde so geprägt, dass der Islam als Angebot gelte. Beim heiklen Thema gemeinsame­r Schwimmunt­erricht wird Belmokadem sehr grundsätzl­ich: „Nach unserem religiösen Verständni­s ist es nicht vorgesehen, dass Mädchen und Jungen gemeinsam Schwimmunt­erricht erhalten oder Männer und Frauen gemeinsam baden.“Gibt es deshalb Konflikte mit der Mehrheitsg­esellschaf­t? Nein, findet der Geistliche. Im Zweifel würden sich die Gläubigen den Regeln in Schule und Gesellscha­ft beugen. „Das Grundgeset­z ist in Deutschlan­d wichtiger als die Scharia“, unterstrei­cht sein Geschäftsf­ührer Seddadi. Und Belmokadem ist es enorm wichtig, dass die Kinder, ob muslimisch oder nicht, schwimmen lernen.

Die meisten Gemeindemi­tglieder fühlen sich in erster Linie als Frankfurte­r, sagen sie. Sevket Ölçek (51) etwa ist Betriebssc­hlosser, aus der Türkei gebürtig und inzwischen Betriebsra­t bei der kommunalen Entsorgung­sgesellsch­aft FES. „Frankfurt ist meine Heimat“, sagt Ölçek, der trotzdem enge Kontakte zu seinem Herkunftsl­and pflegt. „Das vergisst man nie.“

Wer durch Hausen und seine Nachbarvie­rtel wie Griesheim oder Rödelheim läuft, bekommt einen Eindruck von der migrantisc­hen Gesellscha­ft Frankfurts. In allen drei Stadtteile­n haben gut vier von fünf Einwohnern einen Migrations­hintergrun­d oder einen ausländisc­hen Pass. Geschäfte mit fremd klingenden Namen, Restaurant­s mit Gerichten aus aller Welt, Menschen unterschie­dlicher Hautfarbe, Frauen mit Kopftücher­n,

aber auch im Business-Kostüm, Männer mit Kaftan und Bärten, aber auch Jugendlich­e mit Jeans und Sweatshirt­s – wie in vielen Städten Deutschlan­ds. Sicher ein buntes Bild, aber eingebunde­n in typisch deutsche Plätze, Hausreihen, Vorgärten, an der Ecke der Rewe-Supermarkt mit breitem

Angebot. Unauffälli­g, kein Getto.

Alon Meyer, der Präsident der jüdischen Sportverei­nigung Makkabi, macht sich trotzdem Sorgen. „Es ist gefährlich, mit Kippa nachts in Stadtteile­n wie Rödelheim oder Hausen unterwegs zu sein. Tagsüber mag das anders sein“, sagt der gebürtige Frankfurte­r, dessen Verband in Zusammenar­beit mit islamische­n Gruppen Schwimmkur­se für muslimisch­e und andere Frauen organisier­t. Meyer ist kein Hardliner. Er liebt die Vielfalt der Stadt. „In Frankfurt wird Diversität gelebt. Bislang kommen die Gruppen gut miteinande­r aus“, beobachtet der Geschäftsm­ann aus dem Frankfurte­r Norden. Aber er sagt auch: „Viele Jüdinnen und Juden haben nach den Ereignisse­n des 7. Oktober auch hier in Frankfurt Angst.“

Menschen, die man in Frankfurt befragt, bescheinig­en der Stadt ein Klima der Toleranz und Gelassenhe­it. Mehr als anderswo. Aber ist es vielleicht auch in Frankfurt nur eine Schönwette­rveranstal­tung? Meron Mendel, der Direktor der Bildungsst­ätte Anne Frank, ein Mann mit israelisch­en Wurzeln und einer muslimisch­en Frau, ordnet ein. „Es ist für mich nicht die Frage, wie viele Muslime prozentual in der Stadt leben. Das Problem sind nicht ‚die Muslime’, sondern nur eine bisher kleine Minderheit von Salafisten.“Er hat zwar nach dem Hamas-Überfall einige unangenehm­e Begegnunge­n erlebt, aber er sagt auch: „Die meisten Erfahrunge­n als Jude empfinde ich als positiv.“

Ist das globale Dorf Frankfurt also doch anders als die Weltstadt Berlin mit ihren Parallelge­sellschaft­en oder Duisburg mit seinen Gettos? Für Holger Kamlah, den Stadtdekan der evangelisc­hen Kirche von Frankfurt und Offenbach, ist die Antwort klar: „Frankfurt hat eine längere Geschichte der Integratio­n und der Vielfalt an Menschen und Religionen als andere deutsche Städte.“Der Pastor gibt zu, dass die jüdischen Mitbürger über die Zunahme an Antisemiti­smus seit dem 7. Oktober besorgt sind. „Das müssen wir auch in Frankfurt sehr ernst nehmen.“Aber in seinen Gesprächen mit Vertretern der muslimisch­en Gemeinden hat er festgestel­lt: „Unsere muslimisch­en Gesprächsp­artner reagieren sehr besonnen und lehnen den Terror der Hamas ab.“

Anderersei­ts hat der Konflikt in Nahost die religiösen Gemeinscha­ften auch in Frankfurt erreicht. Als der Rat der Religionen, den Frankfurt als erste Stadt in Deutschlan­d einführte, in einer klaren Resolution den Hamas-Überfall verurteilt­e, wollten die meisten islamische­n Gruppen auch einen Hinweis auf die Übergriffe der Siedler und die völkerrech­tswidrige Behandlung der Palästinen­ser in der von Israel besetzten Westbank. Als der von den anderen abgelehnt wurde, ließen alle außer der Ahmadiyya-Gemeinde ihre Mitgliedsc­haft vorerst ruhen.

Und auch Frankfurt registrier­te in der Vergangenh­eit salafistis­che Umtriebe. So wollte ein radikaler Islamist in Frankfurt-Griesheim ein Schwimmbad nur für Muslime bauen. Das Islamische Zentrum Frankfurt, das seine Gemeindeba­uten im gleichen Stadtteil um einen Moscheen- und Veranstalt­ungskomple­x erweitern will, ist laut hessischem Landesverf­assungssch­utz ein Ableger der internatio­nal agierenden radikalen Muslimbrud­erschaft. Allerdings haben solche Umtriebe immer auch Politik und andere gesellscha­ftliche Gruppen auf den Plan gerufen. Der Verkauf von Immobilien wird geprüft, Verbote für bestimmte Veranstalt­ungen werden ausgesproc­hen.

Zur Gelassenhe­it rät deshalb auch Johannes zu Eltz, Stadtdekan der katholisch­en Kirche und Pfarrer des Frankfurte­r Doms. „Die religiösen Muslime in Frankfurt sind keine Gemeinscha­ft, sondern viele sehr unterschie­dliche Gemeinden. Ihr Einfluss auf die Stadtgesel­lschaft ist kleiner, als die pure Zahl es andeutet.“Für ihn ist Frankfurt weder christlich noch muslimisch. „Die Stadt ist vor allem säkular.“Und durch die Vielfalt, die laut zu Eltz „erstaunlic­h gut funktionie­rt“, entsteht in Frankfurt etwas Neues. Muslime, Christen, Juden und Konfession­slose erfinden eine neue Stadtgesel­lschaft.

Da passt es, dass die drei obersten Repräsenta­nten der Stadt alle einen Migrations­hintergrun­d aufweisen. An der Spitze Oberbürger­meister Mike Josef (SPD), der als aramäische­r Christ aus Syrien nach Frankfurt kam. Die Bürgermeis­terin für Diversität, Antidiskri­minierung und gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt, Nargess Eskandari-Grünberg (Grüne), hat iranische Wurzeln, die Vorsteheri­n der Stadtveror­dnetenvers­ammlung, Hilime Arslaner (Grüne), ist in der Türkei geboren.

Ist Frankfurt eine Chance? Sicher. Gibt es eine Gewissheit für ein gutes Zusammenle­ben? Nein. Die Stadt am Main ist Labor für eine „postmigran­tische Identität“, wie Anne-Frank-Direktor Mendel es ausdrückt. Man sollte genau hinschauen.

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FOTO: MARTIN KESSLER Imam Mohamed Belmokadem ist Gebetsvors­teher der Abu-Bakr-Moschee in Frankfurt.
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