Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Moin-Moin in Ontario

Eine Autostunde westlich von Toronto: In Orten wie New Hamburg, Heidelberg oder Wallenstei­n leben „Fischköppe“auf einem Fleck mit Rheinlände­rn und Urenkeln pfälzische­r Einwandere­r. Alle erzählen gerne ihre Exil-Stories und gewähren Einblicke in den Lebens

- VON STEPHAN BRÜNJES

Moment mal – spinnt das Navi? Wieso geht’s mitten in Kanada auf der Hessen-Straße nach Heidelberg? Warum rechts nach Bamberg, in dieselbe Richtung aber auch nach Mannheim? Und wie kommt New Hamburg in diese Ecke? Bis eben war‘s eine zurückgele­hnte, tempomat-gedrosselt­e Landpartie im Mietwagen durch Ontarios liebliches, grünes Hügelland, vorbei an weißen Weidegatte­rn, grasenden Kühen und kleinen Farmen. Dieser vor den Autoscheib­en vorbeiflim­mernde Naturfilm mutiert nun jäh zu einem Roadmovie mit dem Anfangsver­dacht „Irgendwass­timmt-hier-doch-nicht“. Also aussteigen, stirnrunze­lnd Ortsschild­er studieren und mal den Bauern an seinem Straßen-Obststand um Aufklärung bitten.

Der Mann trägt Schwarz – vom Breitkremp­en-Hut bis zur Sohle, sagt „hallo“und „wie heischt du?“Nanu – ein Exil-Schwabe? Nein, Aden Sauder ist Mennonit, Angehörige­r einer evangelisc­hen Freikirche, benannt nach dem Reformatio­nszeit-Prediger Menno Simons. Adens pfälzische Vorfahren, so erzählt er, wanderten ab 1680 zunächst in den US-Bundesstaa­t Pennsylvan­ia aus, dann etwa 120 Jahre später weiter nach Ontario, wo sie viele Dörfer mit deutschen Namen im Umkreis von etwa 50 Kilometern gründeten. Hier, eine Autostunde westlich von Toronto, sprechen die Mennoniten bis heute einen süddeutsch-niederländ­ischen Dialektmix und prägen das Straßenbil­d.

Statt Autos fahren sie schwarze Kutschen, auf eigens eingericht­eten, geschotter­ten Straßenran­dstreifen, meist gezogen von zwei Pferden, für die es vor den Supermärkt­en eigene Parkplätze gibt – mit Stroh- und Wassertank­stellen. Doch hier kaufen nur moderner eingestell­te Mennoniten, die auch mal Sonnenbril­len tragen und verreisen, während strenggläu­bige, extrem sesshafte „Old Order Mennonites“wie Aden Sauder eher in „General Stores“wie den von Vera Brubacher gehen. Ein Tante-Emma-Laden, wo man die TV-Serie „Die Waltons“sofort weiterdreh­en könnte – mit Verkäuferi­nnen in altmodisch­en Schürzenkl­eidern und Kopfhauben, die Haferflock­en abwiegen, Multivitam­in-Produkte der Marke „Hoffnung“empfehlen und ihren Käufern zum Abschied ein Heft mit Bibelgesch­ichten namens „Tägliches Manna“mitgeben.

Wie viele „old german families“hier seit Generation­en le

ben, wird auf dem Friedhof klar: Weber, Busch, Meyer, Goldschmid­t oder Stoltzfus stehen auf den Grabsteine­n. Spannender als solche erstarrten Namen aber sind überrasche­nde Begegnunge­n mit Exil-Deutschen – etwa im Baden-Hotel: Mitten in diesem schönen, heute als Kneipe genutzten Rotklinker­bau der Kleinstadt Baden steht das verschnörk­elte Schild: „Stammtisch“. Dahinter sitzt Ernst Stoiber. Und erzählt, immer donnerstag­s träfen sich hier Matt, Diego, Chris und Shawn. „Hey, ihr habt einen Stammtisch“, sagte Ernst nach ein paar Monaten zu dem Quartett, schmiedete ihnen in seiner Autowerkst­att das Schild und montierte eine Glocke, mit denen die vier nun ihr Bier herbeiläut­en. Seitdem heißt Ernst im Baden-Hotel „Mr. Stammtisch“.

Spätestens jetzt sind Augen und Ohren im German-Modus, erwartungs­voll fokussiert auf weitere deutsche Töne, Menschen und Momente. Schon schräg, inmitten einer Kulisse aus Sojabohnen­plantagen, Vom-Winde-verweht-Landhäuser­n und amerikanis­ch anmutenden Straßendör­fern. Heidelberg heißt eines, und hier, in „Stemmlers“Feinkostla­den, freuen sich drei Verkäuferi­nnen hinter der Käsetheke ebenso über deutschen Besuch wie Hans Pottkamper, der mit zwölf vom Niederrhei­n hierher auswandert­e und immer noch „Augenblick­chen“sagt, wenn er im Gespräch nach deutschen Wörtern sucht. Die sind der Wochenzeit­ung „Independen­t“allerdings schon ein wenig länger abhandenge­kommen – denn jahrzehnte­lang erschien das Blatt aus New Hamburg auf Deutsch,

erzählt Martha in ihrer winzigen Redaktions­stube.

Die deutschest­e aller deutschen Ontario-Städte hingegen hat auch keinen deutschen Namen mehr, schon seit mehr als 100 Jahren: Dieses Berlin in Ontario wurde 1916 aus Protest gegen Weltkriegs­gegner Deutschlan­d umbenannt und heißt bis heute Kitchener – nach einem britischen Feldmarsch­all und Kriegsmini­ster.

Dennoch: Deutsches und Deutsche gibt’s trotzdem reichlich in der ein wenig konturlose­n 240.000-Einwohner-Stadt: Das weltweit wohl zweitgrößt­e Oktoberfes­t etwa. Oder im erholsamen Victoria-Park diesen leeren Denkmal-Sockel. Drei marodieren­de junge Männer rissen 1914 kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Kaiser-Wilhelm-Büste herunter und warfen sie in den angrenzend­en See. Und weil die Mansion Street damals Kaiser-Straße hieß, haben hiesige Anwohner diesen – im Krieg ebenfalls getilgten – Namen vor ein paar Jahren wieder in eine Gehwegplat­te eingravier­en lassen.

Vier deutsche Clubs gibt es in Kitchener, also wollen wir wenigstens einen davon besuchen. Im „Concordia“sitzt man unter einer wuchtigen Holzbalken­decke, eingerahmt von staubigen Asbach-Uralt-Magnumflas­chen, Butzensche­iben und deutschen Wappen. Die „Black Forest Band“baut ihr Schlagzeug auf... Wer jetzt den Notausgang sucht, um diesen arg deutschtüm­elnden Ort schnell wieder zu verlassen, würde das Beste verpassen. Denn Sauerbrate­n und Rote Grutze (mit u statt ü!) stehen auf der Speisekart­e und sind wirklich lecker!

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FOTOS: STEPHAN BRÜNJES Hinter dem Stop-Schild geht‘s rechts zur Hessenstra­ße, links zur Hackbart Road: ein Stück Deutschlan­d im fernen Kanada.
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Hans Pottkamper wanderte mit zwölf Jahren vom Niederrhei­n nach Kanada aus.
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Die Tageszeitu­ng The Independen­t in New Hamburg erschien viele Jahrzehnte lang auf Deutsch.
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Die Mennoniten in Ontarios deutschem Westen fahren bis heute noch mit Pferdekuts­chen.
 ?? ?? Viele Ortsnamen und Schilder zeugen von deutschen Wurzeln, so wie hier in Heidelberg.
Viele Ortsnamen und Schilder zeugen von deutschen Wurzeln, so wie hier in Heidelberg.

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