Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Moin-Moin in Ontario
Eine Autostunde westlich von Toronto: In Orten wie New Hamburg, Heidelberg oder Wallenstein leben „Fischköppe“auf einem Fleck mit Rheinländern und Urenkeln pfälzischer Einwanderer. Alle erzählen gerne ihre Exil-Stories und gewähren Einblicke in den Lebens
Moment mal – spinnt das Navi? Wieso geht’s mitten in Kanada auf der Hessen-Straße nach Heidelberg? Warum rechts nach Bamberg, in dieselbe Richtung aber auch nach Mannheim? Und wie kommt New Hamburg in diese Ecke? Bis eben war‘s eine zurückgelehnte, tempomat-gedrosselte Landpartie im Mietwagen durch Ontarios liebliches, grünes Hügelland, vorbei an weißen Weidegattern, grasenden Kühen und kleinen Farmen. Dieser vor den Autoscheiben vorbeiflimmernde Naturfilm mutiert nun jäh zu einem Roadmovie mit dem Anfangsverdacht „Irgendwasstimmt-hier-doch-nicht“. Also aussteigen, stirnrunzelnd Ortsschilder studieren und mal den Bauern an seinem Straßen-Obststand um Aufklärung bitten.
Der Mann trägt Schwarz – vom Breitkrempen-Hut bis zur Sohle, sagt „hallo“und „wie heischt du?“Nanu – ein Exil-Schwabe? Nein, Aden Sauder ist Mennonit, Angehöriger einer evangelischen Freikirche, benannt nach dem Reformationszeit-Prediger Menno Simons. Adens pfälzische Vorfahren, so erzählt er, wanderten ab 1680 zunächst in den US-Bundesstaat Pennsylvania aus, dann etwa 120 Jahre später weiter nach Ontario, wo sie viele Dörfer mit deutschen Namen im Umkreis von etwa 50 Kilometern gründeten. Hier, eine Autostunde westlich von Toronto, sprechen die Mennoniten bis heute einen süddeutsch-niederländischen Dialektmix und prägen das Straßenbild.
Statt Autos fahren sie schwarze Kutschen, auf eigens eingerichteten, geschotterten Straßenrandstreifen, meist gezogen von zwei Pferden, für die es vor den Supermärkten eigene Parkplätze gibt – mit Stroh- und Wassertankstellen. Doch hier kaufen nur moderner eingestellte Mennoniten, die auch mal Sonnenbrillen tragen und verreisen, während strenggläubige, extrem sesshafte „Old Order Mennonites“wie Aden Sauder eher in „General Stores“wie den von Vera Brubacher gehen. Ein Tante-Emma-Laden, wo man die TV-Serie „Die Waltons“sofort weiterdrehen könnte – mit Verkäuferinnen in altmodischen Schürzenkleidern und Kopfhauben, die Haferflocken abwiegen, Multivitamin-Produkte der Marke „Hoffnung“empfehlen und ihren Käufern zum Abschied ein Heft mit Bibelgeschichten namens „Tägliches Manna“mitgeben.
Wie viele „old german families“hier seit Generationen le
ben, wird auf dem Friedhof klar: Weber, Busch, Meyer, Goldschmidt oder Stoltzfus stehen auf den Grabsteinen. Spannender als solche erstarrten Namen aber sind überraschende Begegnungen mit Exil-Deutschen – etwa im Baden-Hotel: Mitten in diesem schönen, heute als Kneipe genutzten Rotklinkerbau der Kleinstadt Baden steht das verschnörkelte Schild: „Stammtisch“. Dahinter sitzt Ernst Stoiber. Und erzählt, immer donnerstags träfen sich hier Matt, Diego, Chris und Shawn. „Hey, ihr habt einen Stammtisch“, sagte Ernst nach ein paar Monaten zu dem Quartett, schmiedete ihnen in seiner Autowerkstatt das Schild und montierte eine Glocke, mit denen die vier nun ihr Bier herbeiläuten. Seitdem heißt Ernst im Baden-Hotel „Mr. Stammtisch“.
Spätestens jetzt sind Augen und Ohren im German-Modus, erwartungsvoll fokussiert auf weitere deutsche Töne, Menschen und Momente. Schon schräg, inmitten einer Kulisse aus Sojabohnenplantagen, Vom-Winde-verweht-Landhäusern und amerikanisch anmutenden Straßendörfern. Heidelberg heißt eines, und hier, in „Stemmlers“Feinkostladen, freuen sich drei Verkäuferinnen hinter der Käsetheke ebenso über deutschen Besuch wie Hans Pottkamper, der mit zwölf vom Niederrhein hierher auswanderte und immer noch „Augenblickchen“sagt, wenn er im Gespräch nach deutschen Wörtern sucht. Die sind der Wochenzeitung „Independent“allerdings schon ein wenig länger abhandengekommen – denn jahrzehntelang erschien das Blatt aus New Hamburg auf Deutsch,
erzählt Martha in ihrer winzigen Redaktionsstube.
Die deutscheste aller deutschen Ontario-Städte hingegen hat auch keinen deutschen Namen mehr, schon seit mehr als 100 Jahren: Dieses Berlin in Ontario wurde 1916 aus Protest gegen Weltkriegsgegner Deutschland umbenannt und heißt bis heute Kitchener – nach einem britischen Feldmarschall und Kriegsminister.
Dennoch: Deutsches und Deutsche gibt’s trotzdem reichlich in der ein wenig konturlosen 240.000-Einwohner-Stadt: Das weltweit wohl zweitgrößte Oktoberfest etwa. Oder im erholsamen Victoria-Park diesen leeren Denkmal-Sockel. Drei marodierende junge Männer rissen 1914 kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Kaiser-Wilhelm-Büste herunter und warfen sie in den angrenzenden See. Und weil die Mansion Street damals Kaiser-Straße hieß, haben hiesige Anwohner diesen – im Krieg ebenfalls getilgten – Namen vor ein paar Jahren wieder in eine Gehwegplatte eingravieren lassen.
Vier deutsche Clubs gibt es in Kitchener, also wollen wir wenigstens einen davon besuchen. Im „Concordia“sitzt man unter einer wuchtigen Holzbalkendecke, eingerahmt von staubigen Asbach-Uralt-Magnumflaschen, Butzenscheiben und deutschen Wappen. Die „Black Forest Band“baut ihr Schlagzeug auf... Wer jetzt den Notausgang sucht, um diesen arg deutschtümelnden Ort schnell wieder zu verlassen, würde das Beste verpassen. Denn Sauerbraten und Rote Grutze (mit u statt ü!) stehen auf der Speisekarte und sind wirklich lecker!