Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Die meisten wollen jetzt einfach mehr Geld“
Der Chef der Chemie- und Energiegewerkschaft IG BCE zur Bedeutung des 1. Mai, zu dem „Wirtschaftswende“-Papier der FDP und dem personellen Kahlschlag bei Bayer.
Herr Vassiliadis, vor 20 Jahren, als Gerhard Schröder die Agenda 2010 einführte, waren die Gewerkschaften ohnmächtig. Zu diesem 1. Mai präsentieren sie sich stark wie nie. Sind Sie der Gewinner des Fachkräftemangels?
VASSILIADIS Die Realitäten am Arbeitsmarkt haben sich seitdem fundamental gewandelt. Damals hatten wir fünf Millionen Erwerbslose und einen Bewerberüberschuss. Heute sind es die Arbeitgeber, die sich um ihr Personal bemühen müssen.
Arbeitnehmer können selbstbewusst auftreten. Die Gewerkschaften müssen jetzt auf dem Platz sein, um daraus eine kollektive Stärke zu machen. Denn gleichzeitig wird das Umfeld rauer: Inflation, hohe Zinsen, geringes Wachstum. Lohnerhöhungen werden nicht mehr allein aus Zuwächsen finanziert werden können, sondern mitunter auch aus der Substanz. Wir brauchen neue Antworten auf die Frage, wie wir den Kuchen verteilen.
Die Chemieindustrie weist die sieben Prozent mehr Lohn, die die IG BCE in der aktuellen Runde fordert, aber als unfinanzierbar zurück.
VASSILIADIS Die Reaktion der Arbeitgeber ist völlig überzogen. Wir haben in unserer Forderung die differenzierte Lage der Branche bereits eingepreist. Manchen Konzernen – etwa aus der Pharma- oder der Konsumgüterindustrie – geht es so gut, da hätten wir auch zwölf Prozent aufrufen können. Andere Unternehmen mit schwächeren Ergebnissen wiederum zahlen die Dividende aus den Rücklagen, um ihre Aktionäre bei der Stange zu halten. Genau das fordern wir auch mit Blick auf ihre Fachkräfte. Zumal in der gesamten Branche Konjunktur und Produktion gerade wieder anziehen.
Die IG Metall ist beim Stahl mit der 32-Stunden-Woche gescheitert. Ist Wochenarbeitszeit ein Thema für Sie?
VASSILIADIS In vielen Chemiebetrieben kann man heute schon in bestimmten Lebensphasen die tarifliche Arbeitszeit auf eine VierTage-Woche reduzieren – ohne Lohneinbußen. Eine generelle Absenkung der Wochenarbeitszeit für alle ist aber aktuell für die Mehrheit unserer Mitglieder kein Thema. Angesichts der hohen Inflation der jüngeren Vergangenheit wollen die meisten jetzt einfach mehr Geld. Darum können wir auch über den Vorschlag der FDP zu steuerfreien Überstunden reden, wenn…
Ach? Das sehen andere Gewerkschafter anders…
VASSILIADIS Moment. Wenn die Betriebe erst einmal die etwa 750 Millionen unbezahlten Überstunden, die Deutschlands Arbeitnehmer pro Jahr leisten, auch erfassen und bezahlen. Diese Überstunden könnten dann gegebenenfalls auch steuerfrei gestellt werden, um die Mitarbeiter für ihren Einsatz zu belohnen.
Wie finden Sie ansonsten das Zwölf-Punkte-Papier der FDP?
VASSILIADIS Egal, ob Bürgergeld oder Steuerpolitik: Ich bin enttäuscht über die Oberflächlichkeit der FDP-Pläne. Dass das Bürgergeld für den Einzelnen um rund 50 Euro erhöht wurde, kann doch kein Drama sein. Gleichwohl bin ich für Fördern und Fordern – wenn man denn den Arbeitslosen auch eine faire Chance gibt, sich zu qualifizieren. Bei der Abschaffung der Kalten Progression hätten wir uns mehr Mut gewünscht – dann muss man eben auch über Steuererhöhungen an anderer Stelle sprechen.
Die FDP fordert auch eine neue Generation der Atomkraft, sogenannte Kernfusionsreaktoren. Ein heißes Thema in Deutschland trotz der jüngsten Abschaltung. Was sagen Sie?
VASSILIADIS Die Debatte um die letzten drei Meiler ist völlig überhöht – sie waren ja in den Streckbetrieb gegangen. Hätten wir sie länger laufen lassen wollen, hätte es neue Brennstäbe und lange Revisionen gebraucht. Die klassische Atomkraft hat sich in Deutschland erledigt. Neuen Technologien sollte man aber offen gegenüberstehen.
Der Aufschrei ist groß, das sei ein Scheidungspapier, so die Union. Hält die Ampel?
VASSILIADIS Mein Bauchgefühl sagt: ja. Die FDP wird nicht so dumm sein, die Koalition zu verlassen – ihr droht bei Neuwahlen der Abschied vom Bundestag und nach einer Mehrheit für Schwarz-Gelb sieht es schon gar nicht aus.
Die Unruhe in der Chemie ist dennoch groß. Droht uns die Deindustrialisierung?
VASSILIADIS Die Chemie steht nicht vor einer Massenabwanderung. Aber die Lage in den energieintensiven Bereichen ist ernst, uns drohen ganze Wertschöpfungsstufen wegzubrechen. Energie ist in den USA oder China viel billiger. Gerade grüner Strom wird in Zukunft zum entscheidenden Erfolgsfaktor für die Transformation der Branche. Der Staat sollte dafür Sorge tragen, dass sie ihn zu international wettbewerbsfähigen Konditionen erhält. Wir müssen die Industrie über diese Klippe bringen. Dann kann sie auch später mehr Steuern zahlen.
Wie? Den Industriestrompreis hat der Kanzler ihr – aus guten ordnungspolitischen Gründen – verwehrt.
VASSILIADIS Inzwischen zeichnet sich ab, dass der Strompreis auch 2030 noch zu hoch sein wird, weil wir mit dem Ausbau von Netzen und erneuerbaren Energien nicht schnell genug vorankommen. Der Staat sollte stattdessen die Netzentgelte senken oder die CO2-Bepreisung aussetzen. Entscheidend ist: Strom muss billiger werden.
Ist der Kohleausstieg 2030 noch machbar?
VASSILIADIS Der Kohleausstieg 2030 in NRW wackelt. Es gibt zu wenig Ökostrom, auch die neue Kraftwerksstrategie droht zu spät zu kommen. Vermutlich werden wir am Ende doch beim gesetzlich geregelten Ausstiegsdatum 2038 landen, das wir einst in der Kohlekommission empfohlen hatten.
Schauen wir auf die einzelnen Konzerne: Machen Sie sich Sorgen um Bayer?
VASSILIADIS Bayer hat ein Klage- und Finanzproblem. Es ist gut, dass der Konzern nun eine Lösung der Glyphosatkrise außerhalb der Gerichtssäle suchen will. Wenn man den US-Bauern Glyphosat wegnimmt, dann werden sie auf die Barrikaden gehen.
Was halten Sie von Bill Anderson? Der Stellenabbau ist hart, der Kündigungsschutz läuft nach 2026 aus.
VASSILIADIS Anderson hat die Verantwortung dafür, Bayer wieder in die Spur zu bringen. Er muss in den nächsten Jahren liefern. Eine Aufspaltung macht dabei keinen Sinn, das macht den Konzern nur kleiner und angreifbarer. Der Stellenabbau bei Bayer ist hart und er trifft dieses Mal eine ganz andere Klientel – Manager. Eine weitere Verlängerung des Kündigungsschutzes, der nun bis Ende 2026 reicht, war in dieser Konstellation nicht möglich.
Was ist mit Covestro und Lanxess? Covestro wartet weiter auf ein verbindliches Angebot von Adnoc.
VASSILIADIS Hier sind die Probleme struktureller Natur. Sie wurden wie Ineos aus der alten Bayer-Welt abgespalten und hängen sehr an einzelnen Produkten. Ich bin gespannt, ob Adnoc noch ein höheres Angebot für Covestro vorlegen wird. Mit uns hat Adnoc noch nicht gesprochen. Unsere Bedingungen sind aber klar: Standort- und Beschäftigungsgarantien, Anerkennung von Tarifverträgen.
Ihr Wunsch an die Politik?
VASSILIADIS NRW ist mit Antwerpen die größte Chemieregion der Welt, diesen Schatz müssen wir hüten. Dazu gehört es auch, dass der Staat sich in Brüssel für die Chemie einsetzt. Er soll dort nicht als Oberlehrer auftreten, aber als Motor für ein Europa mit starker Industrie.
Sie sind auch im Kuratorium der RAG-Stiftung. Diese musste Millionenbeträge auf Signa-Beteiligungen abschreiben. Darf die Stiftung weiter Monopoly spielen? Es geht um öffentliches Geld für die Ewigkeitslasten.
VASSILIADIS Solche Verluste sind ärgerlich und dürfen sich nicht wiederholen. Bislang waren einzelne Investitionsentscheidungen des Vorstands für das Kuratorium nicht bis ins letzte Detail transparent. Das werden wir anpassen. Klar ist: Alle Verantwortlichen in der Stiftung müssen und werden aus der Causa Benko ihre Lehren ziehen.