Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Immer noch kein Titel
Harry Kane wartet als 30-Jähriger noch immer auf seinen ersten großen Erfolg im Fußball. Drei Trophäen verpasste er bereits in seiner ersten Saison bei den Bayern. Eine Chance hat er noch: in der Champions League.
Am 12. August 2023 sollten sich die Dinge grundsätzlich ändern für Harry Edward Kane. Alles war angerichtet in seinem neuen Wohnzimmer in einem Münchner Vorort namens Fröttmaning, der zwar praktisch keine Einwohner zählt, dafür aber ein Autobahnkreuz, eine enorme ehemalige Mülldeponie sowie eben auch die Allianz-Arena. Dort spielte zum Ende der vergangenen Sommerpause der FC Bayern München im sogenannten Supercup des Meisters gegen den Pokalsieger um seinen ziemlich genau 85. Titel.
Der 100-Millionen-Euro-Mann, der teuerste Zugang in der Geschichte der Bundesliga, spielte an seinem ersten Tag bei den Bayern um seinen ersten Titel überhaupt. Leipzig gewann glatt mit 3:0. Heißt: Die Bayern im Allgemeinen und Kane im Speziellen verloren.
Man muss sich Harry Kane als nüchternen Menschen vorstellen, aber im oder spätestens nach jenem Spiel muss sich auch ihm die Frage aufgedrängt haben, ob nicht womöglich doch etwas dran sei an der eigentlich natürlich sagenhaft bescheuerten Geschichte vom „Titellos-Fluch“, der ihn verfolge. Andererseits bestand an jenem Abend noch längst kein Grund zur Panik. Den so ersehnten ersten Titel gleich beim ersten Auftritt für seinen zweiten Klub eingesackt zu haben wäre für Kane zwar perfekt gewesen, aber sei’s drum.
Die neue Saison stand vor der Tür, und die Frage war nicht, ob der FC Bayern München sie mit einem Titel beendet würde, sondern mit wie vielen. Das Ziel war dasselbe wie jedes Jahr: das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League. Oder jedenfalls das Double. Mindestens die Meisterschaft. Und falls alle Stricke rissen, dann halt nur der doofe DFB-Pokal. Für Charlie Chaplin mag ein Tag ohne Lächeln ein verlorener Tag sein. Für den FC Bayern München ist ein Jahr ohne Titel nicht nur ein verlorenes Jahr, es ist unvorstellbar.
Diese Anspruchshaltung mag man für arrogant halten, aber sie war insbesondere vor jener nun bald zu Ende gehenden Spielzeit folgerichtig: Schließlich hatten die Bayern den Begriff „Serien-Sieger“ganz neu definiert mit nicht bloß zwei oder drei oder fünf, sondern elf (!) Meister-Titeln in Folge. Zudem waren seit 2013 fünf DFB-Pokale sowie immerhin zwei Trophäen für den Triumph in der Champions League in die Vitrinenschränke gewandert.
Im Sommer 2024 also würden die Sportreporter vor allem von der Insel endlich Ruhe geben müssen mit ihrem Fluch-Gefasel, so viel war beinahe garantiert. Was dann geschah, ist bekannt: In der Liga war für die Bayern gegen Bayer Leverkusen unter Trainer-Titan Xabi Alonso kein Kraut gewachsen, im DFB-Pokal war bereits in der zweiten Runde gegen Saarbrücken Schluss.
Das Missverhältnis von Kanes Toren zu Titeln bis dato ist fast absurd: Kane hat in der Premier League 213 Tore erzielt – nur sein Jugendidol Alan Shearer hatte jemals noch mehr, und auch dessen Marke hätte Kane in zwei, drei weiteren Spielzeiten fast garantiert pulverisiert.
In der Bundesliga musste er sich nicht akklimatisieren, sondern hat bereits 35 Mal getroffen; mehr als jeder andere in seiner ersten Saison inklusive Uwe Seeler (30 Tore; Saison 1963/64). Und trotz der mehr als holprigen Saison der Bayern ist der ewige Vereins- und Liga-Rekord von Robert Lewandowski (41; Saison 2020/21) noch in Reichweite. Und für die englische Nationalmannschaft erzielte niemand je mehr als die 62 Treffer von Kapitän „King Kane“, der zudem aller Voraussicht nach noch mehrere Jahre auf höchstem Niveau vor sich hat.
Ein ESPN-Reporter schrieb nach Nennung all dieser (und vieler anderer) Zahlen: „Wenn Sie raten müssten, würden Sie wohl sagen, dass dieser Spieler diverse Titel gewonnen hat. Mindestens fünf, vielleicht auch zehn – oder noch mehr?“
Hat er aber eben nicht. Sondern keinen einzigen. Zumindest keinen derer, die unterm Strich zählen im Fußball, der bei allem Individualismus immer noch ein Mannschaftssport ist. Sondern bloß rund zwei Dutzend individuelle Auszeichnungen, darunter vier „Goldene Schuhe“für den besten Torschütze der WM 2018 sowie der Premier-League-Saisons 2016, 2017 und 2021.
Aber noch ist ja nicht aller Spieltage Abend: Keineswegs unmöglich wirkt, was nach all den Nackenschlägen der vergangenen Wochen und Monate absolut undenkbar erschien: Mit „nur“einem Weiterkommen in den Halbfinalspielen gegen Real Madrid (Hinspiel Dienstag, 21 Uhr) und einem Finalsieg gegen Paris Saint-Germain oder Dortmund wären der bereits geschasste Thomas Tuchel und sein FC Bayern, und damit auch Harry Kane, Champions-League-Sieger.
Entweder das, oder die Saison endet für alle titellos in einem Tal der Tränen – und Kanes „Fluch“wäre auf den FC Bayern München ausgeweitet. Zumindest bis zur kommenden Saison.