Hongkongs Protest überschattet Pekings Jubelfeier
Die Demonstranten stören die Zeremonie der Politik-Elite zum Nationalfeiertag. Die chinesische Regierung setzt auf Zeit.
HONGKONG Hongkong muss sich möglicherweise auf wochenlange Massenproteste von Gegnern der chinesischen Zentralregierung einstellen. Vor 26 Jahren, da war Fung Chun-ip schon einmal von diesem Virus befallen worden: Demokratie. Ein Traum, eine Leidenschaft, er wusste nur aus Büchern davon. Fung Chun-ip war 28 Jahre alt und brannte für die Idee, Hongkong, die Stadt, in der er groß geworden war, auch demokratisch nennen zu dürfen. Es habe ja so vieles dafür gesprochen. Die Briten – ach, was sei
„Wir hatten Hoffnung. Aber wir wurden wieder
einmal betrogen.“
Fung Chun-ip
Mathematikprofessor in Hongkong
er heute enttäuscht von ihnen –, sie sahen ihre Zeit in Hongkong damals ablaufen und schenkten den Hongkongern immer mehr Freiheiten, eine bunte Zivilgesellschaft inklusive, auch ohne Demokratie. Fung Chun-ip aber fing an, genau dafür zu kämpfen. Das Volk sollte endlich das Sagen haben.
Das Volk sollte dieses Sagen tatsächlich bekommen – von den Chinesen, so seltsam der Vorschlag zunächst klingen mochte. Die Hongkonger sollten wählen, so hatte Chinas Zentralregierung es 1997 versprochen, und viele Hongkonger hatten das Versprechen geglaubt. „Wir haben Kinder in die Welt gesetzt, wir setzten auf ein freiheitliches Leben mit einer demokratisch gewählten Regierung. Wir hatten Hoffnung“, sagt er heute. „Aber wir wurden wieder einmal betrogen.“
Fung Chun-ip ist mittlerweile 54 Jahre alt, Mathematikprofessor an der Hongkong-Universität, ein ruhiger, nicht selten pathetisch klingender Mann, der sich einen Klappstuhl geschnappt hat und an einer Straßenabsperrung vor dem Regierungsgebäude im Stadtteil Admiralty sitzt und sich freut. So viele 18Jährige, 20-Jährige, selbst 15-Jährige um ihn herum, die heute genau wie er vor mehr als einem Vierteljahrhundert den Traum von Demokratie träumen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die diesen Traum in die Tat umzusetzen versucht, in Massen, friedlich und geordnet, wie Hongkonger nur sein können. Sie tragen den Müll weg, sie verteilen Kekse, niemand wirft ei- nen Stein, die Plastikflaschen legen sie sorgsam in die dafür vorgesehen Behälter. Die jungen Männer und Frauen hocken auf dem Boden, manche schlafen, andere spielen Karten oder machen ihre Hausaufgaben. Von „gewaltbereiten Extremisten“, wie Pekings Zentralregierung die Zehntausende Demonstranten immer wieder zu diffamieren versucht, keine Spur. Es ist eine Stadtfeststimmung.
Zu feiern hat auch die Hongkonger Regierung einiges. Es ist Nationalfeiertag, am 1. Oktober vor 65 Jahren hatte der große chinesische „Steuermann“Mao Tse-tung am Tor des Himmlischen Friedens in der Verbotenen Stadt in Peking die Gründung der kommunistischen Volksrepublik ausgerufen. Auch Hongkong macht seit einigen Jahren bei dem Fest mit. An diesem Tag aber wird das Gläserklirren der Poli- tikelite erheblich gestört. Bereits um 7 Uhr morgens stehen die Demonstranten am Bauhinien-Platz, dem Rondell mit der aus Stein geformten Pflanze, die auf Hongkongs Fahne prangt. Hongkongs Regierungschef Leung Chun-ying, dessen Rücktritt die Protestierenden seit Tagen fordern, schreitet über den roten Teppich, Pekings wichtigsten Vertreter Zhang Xiaoming neben sich. Die Fahnen werden gehisst, die rote Hongkonger mit der weißen Bauhinie, die rote chinesische mit den fünf gelben Sternen.
Demonstrativ wenden die Protestierenden der Zeremonie den Rücken zu, kreuzen in der Luft ihre Arme, gelbe Bänder als Zeichen des Protests sind zu sehen. Stumm stehen sie da. Eine gespenstische Ruhe, obwohl es kurz zuvor zum Streit zwischen den Demonstranten-Gruppen gekommen war. Eini- ge Hitzköpfe hatten beschlossen, die Regierungsaktion zu stürmen. Andere hatten daraufhin eine Menschenkette gebildet, um sie aufzuhalten. „Bitte Ruhe bewahren“, so steht es auch auf den Plakaten überall in der Stadt.
Mit der Ruhe ist es so eine Sache. „Der gemeinsame Nenner ist klar: Wir wollen freie Wahlen. Aber jede Gruppe will es anders durchsetzen, es gibt keinen richtigen Sprecher, niemand weiß, wie es weitergeht. Wird sich der Protest schon bald verlaufen? Wird die Polizei wieder den großen Fehler machen und durchgreifen und so erneut viele Menschen mobilisieren?“Sice Wu, der 22-jährige Journalistik-Student, hat sich viele Gedanken gemacht über seine Mitdemonstranten.
Die Stimmung sei aufgeladen, niemand traue sich, einen Schritt nach vorn zu machen. Wie soll er denn aussehen, der Kompromiss? Sice Wu überlegt lange, zuckt mit den Schultern. Der 28-jährige Designer Kent, der immer nur am Abend zum Protest kommt, hätte eine Lösung: Dialog. „Die Anführer könnten sich doch zu einem Gespräch mit der Regierung treffen. Die Regierung könnte sie einladen. Es ist alles so einfach: Lasst uns wählen.“
Wenn es nur wirklich so einfach wäre. „Unsere Regierung besteht aus Marionetten. Entschieden wird alles in Peking“, sagt Professor Fung Chun-ip auf seinem Plastikstuhl. Immer bestimme jemand anderes über die Hongkonger, erst die Briten, nun die Chinesen. „Wer sind wir?“Die Hongkonger suchen ihre Identität, angetrieben von einer Jugend, von der die meisten erst im chinesischen Hongkong zur Welt kamen.
Den Plänen Pekings aber, sich der kommunistischen Welt zuzuwenden, gehorchen sie nicht, obwohl Gehorsam durchaus stark in den Köpfen verankert ist. Die Schüler hören auf Professoren, hören auf die Kirchen, auf ihre Eltern. Doch auch die Professoren, die Priester, so mancher Vater und manche Mutter füllen die Straßen. Es sind längst nicht so viele wie die Jugendlichen, aber „es ist unsere Pflicht, den Jungen beizustehen“, wie es Fung Chun-ip ausdrückt.
Kaum einer glaubt gegen China anzukommen. Aber jeder hofft, Peking zumindest unter Druck setzen zu können. „Wir sind nicht einfach eine chinesische Stadt.“Wie es weitergeht, weiß aber niemand. Feiertage sind nun angebrochen, der Belagerungszustand dürfte anhalten, manche Demonstranten drohen mit der Erstürmung des Regierungsgebäudes. „Unruhestifter“, sagen die anderen. Die Regierung setzt auf Zeit, hoffend, es erledige sich von selbst. Am Montag sei der entscheidende Tag, glauben einige, dann, wenn das Geschäftsleben nach den freien Tagen wieder anbricht.
Die Demonstranten werden nicht so einfach von den Straßen verschwinden, auch wenn ihre Anführer noch keine Idee haben, was sie ihrer Gefolgschaft anbieten können. Der Druck wird immer größer. Aus den eigenen Reihen, aber auch von den Protest-Gegnern. „Demokratie ist ein schweres Geschäft“, seufzt Student Sice Wu. Professor Fung Chun-ip kann da nur nicken.