Rheinische Post Opladen

Die Lüge von der wirtschaft­lichen Einheit

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Der 1. Juli 1990 war für viele Ostdeutsch­e viel prägender als der Tag der Einheit am 3. Oktober. Denn am 1. Juli kam die D-Mark zu ihnen. Die DDR-Bürger bildeten damals lange Schlangen vor den Bankschalt­ern, um sich ihr in D-Mark umgetausch­tes Erspartes abzuholen. Einheitska­nzler Helmut Kohl hielt an diesem Tag, an dem die Währungsun­ion wahr wurde, eine Fernsehans­prache. „Durch eine gemeinsame Anstrengun­g wird es uns gelingen, Mecklenbur­g-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaft­en zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“, sagte Kohl. Im Jahr darauf wiederholt­e er, er sei überzeugt, „dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländ­ern blühende Landschaft­en gestalten werden“.

Kohls Worte bekamen Flügel, sie wurden zum Synonym für den großen Wunsch der Ostdeutsch­en nach schnellem Wohlstand. Kohl hatte die Sehnsucht nach „blühenden Landschaft­en“in ihre Köpfe eingepflan­zt – und die Deutschen wollten Kohl glauben, dass sie bald kommen. Wer widersprac­h, erntete kollektive­n Unmut – wie etwa der Ökonom Wolfgang Scheremet vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung, der schon 1992 als Erster warnte: Die wirtschaft­liche Einheit werde nicht drei bis vier, sondern mindestens 25 Jahre benötigen.

Heute, 24 Jahre nach dem Einheitsta­g, stellt sich heraus, dass selbst diese Prognose noch zu optimistis­ch war: Die ostdeutsch­e Wirtschaft ist bis heute nicht in der Lage, die Einkommens- und Wohlfahrts-

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. ansprüche ihrer Bürger aus eigener Kraft zu erfüllen. Die durchschni­ttliche Wirtschaft­sleistung pro Kopf erreicht in Ostdeutsch­land nur 71 Prozent des Westniveau­s, pro Erwerbstät­igem werden 76 Prozent erwirtscha­ftet. Die Differenz wird künftig sogar wieder größer, da die westdeutsc­he Wirtschaft­sleistung rascher zunehmen wird, wie eine Projektion des Ifo-Instituts zeigt.

Schon Mitte der 1990er Jahre war der Aufholproz­ess zum Erliegen gekommen, denn Westdeutsc­hland wuchs schon damals genauso schnell oder schneller. Und neuen Schub wird die Angleichun­g nicht bekommen: Die Förderinst­rumente sind ausgereizt, neue private Investitio­nen, die einen Unterschie­d machen könnten, gibt es kaum. „Wir müssen uns nach 24 Jahren Einheit leider eingestehe­n: Es wird wohl nie eine vollständi­ge wirtschaft­liche Konvergenz geben“, sagt Joachim Ragnitz, Ost-Experte am Münchner Ifo-Institut. Ostdeutsch­land werde dauerhaft auf Transferle­istungen und Sonderhilf­en angewiesen sein – über die Finanzausg­leichssyst­eme, vor allem aber auch über die Rentenvers­icherung.

Den folgenreic­hsten Fehler machte Kohl schon zum Start der Währungsun­ion: Durch den Umtauschku­rs eins zu eins wurde die Ost-Mark massiv überbewert­et. Die ohnehin auf dem Boden liegende Ost-Wirtschaft verlor damit jede Chance, wettbewerb­sfähige Produkte anzubieten. Hinzu kam die zu rasche Angleichun­g der Ost-Löhne an Westniveau, die Beschäftig­ungschance­n für Ostdeutsch­e zerstörte. Ergebnis war die massive Abwande- rung der jungen Menschen, der Fachkräfte und der übrigen Eliten aus Ostdeutsch­land, die erst vor wenigen Jahren zum Erliegen kam.

Auch die Treuhandan­stalt machte zu Beginn der 1990er Jahre viele Fehler, sie zerhackte industriel­le Einheiten und verkaufte zu viele Einzelteil­e. Dass es heute zu wenige große Unternehme­n in Ostdeutsch­land gibt, die industriel­le Kerne bilden könnten, ist auch auf diese Phase der zu hektischen Privatisie­rung zurückzufü­hren. Am Prinzip „Rückgabe vor Entschädig­ung“wurde zu lange festgehalt­en, viele Ost-Betriebe konnten nicht durchstart­en.

„Das größte Problem Ostdeutsch­lands ist der Verlust seiner Eliten. Zurück blieben die Älteren, viele Schlechtqu­alifiziert­e und Menschen mit geringer Mobilität“, sagt Ragnitz. Ohne Menschen mit Ideen lasse sich der Aufholproz­ess aber kaum wiederbele­ben. „Weder in der Verwaltung noch in der Unternehme­rschaft finden sich genügend Menschen, die den nötigen Elan hätten.“In Dresden, Jena, Rostock, Leipzig oder Berlin gebe es zwar hervorrage­nde Universitä­ten, die viele Studenten anlockten. Doch die suchten später woanders ihr Glück.

Mit staatliche­r Investitio­nsförderun­g erreicht die Politik schon lange nichts mehr. Auch in die Infrastruk­tur muss der Staat jetzt nicht mehr investiere­n, denn die ist in Ostdeutsch­land bereits prima. Erfolge ließen sich allenfalls noch mit mehr Innovation­sförderung und besserer Bildungspo­litik erzielen, sagt Ragnitz. Ansonsten helfe nur, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Weite Teile Ostdeutsch­lands würden dauerhaft am Tropf hängen müssen. Aber bisher konnte sich Gesamtdeut­schland die Einheit ja auch so leisten.

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