Herr Yamashiro
Weil Nakata Seiji infolge zweier vielbeachteter Ausstellungen, für die Ito Hidetoshi ihn kurz vor seinem Tod noch persönlich empfohlen hatte, von den Töpfern der jüngeren Generation der berühmteste war, wurde er ausgewählt, die zehntägige Delegationsreise zu den wichtigsten Keramikern des Landes zu leiten. Allerdings hatte er es zur Bedingung gemacht, dass Ernst ihm als Dolmetscher zur Verfügung gestellt werde, da die Deutschen bei speziellen Wünschen im Zweifel lieber einen Landsmann als Ansprechpartner hätten. Weil es der Vorsitzende der Keramikervereinigung Echizen persönlich war, der in seiner offiziellen Funktion bei Herrn Furukawa anfragte, ob es möglich sei, Ernst für die Betreuung der Gäste abzuordnen, musste dieser ihn freigeben. Um seiner Autorität als Meister willen durfte es allerdings keinesfalls den Anschein haben, er sei überrumpelt oder gar zur Zustimmung genötigt worden, so dass er Ernst gegenüber erklärte, er selbst habe der Kommission vorgeschlagen, ihn dem Reiseleiter, Herrn Nakata Seiji, zur Verfügung zu stellen. Dies sei einhellig begrüßt worden, und die Keramikervereinigung Echizen habe ihn deshalb mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, die Gruppe zu begleiten.
Ernst nahm es widerspruchslos hin, dass Herr Furukawa von seiner Bereitschaft ausgegangen war, ohne ihn zu fragen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was den Meister zu dieser großzügigen, seinen zuvor geäußerten Ansichten zuwiderlaufenden Geste bewogen hatte, doch er wusste, dass unbedingter Gehorsam bei allen Anordnungen, selbst wenn sie vollkommen absurd erschienen, für jeden Schüler eine Selbstverständlichkeit war. Da die Reiseverpflichtung ihm unverhoffte Möglichkeiten eröffnete, fiel ihm Ergebenheit in diesem Fall leicht. Mühe bereitete es ihm lediglich, seine Begeisterung zu verschleiern, damit Herr Furukawa es sich nicht plötzlich anders überlegte, denn von alters her zählten überraschende Kehrtwenden zu den beliebtesten Schulungsmethoden im Zen.
Drei Monate später, eine Woche vor dem Eintreffen der Delegation, erschien Frau Nakata bei Herrn Furukawa und bat ihn, Ernst zu einem Abendessen einladen zu dürfen, das dem persönlichen Kennenlernen und der Reisevorbereitung dienen solle. Da Herr Furukawa vor Ernst als Mitinitiator der gesamten Unternehmung dastand, blieb ihm keine andere Wahl, als der Einladung zuzustimmen.
Auf dem Weg zum Haus der Familie Nakata verwandelte sich Ernsts unterschwellige Furcht, dass er auch nach beinahe zwei Jahren vor Ort nicht in der Lage war, sich in einem japanischen Haushalt halbwegs korrekt zu benehmen, in mittelschwere Panik, zumal die in Europa gebräuchliche Möglichkeit, mittels amüsanter Erzählungen aus dem eigenen Leben die Atmosphäre zu lockern, sich für einen Schüler ebenso wenig ziemte, wie das freimütige Äußern persönlicher Standpunkte in Fragen von Gewicht.
Es zeigte sich jedoch, dass Nakatas ihrerseits alle vorstellbaren Peinlichkeiten bedacht hatten. Insbesondere Nakata Masami führte Essen und Gespräch so geschickt, dass Ernst immer rechtzeitig wusste, welches Gericht man auf welche Weise aß und was seitens der Gastgeber über dies und jenes Thema gedacht wurde. So konnte er grobe Verletzungen der Tischsitten ebenso umgehen wie gefährliche Meinungsverschiedenheiten. Überhaupt wurde im Hause Nakata eine sonderbare und in ihren Gesetzmäßigkeiten schwer durchschaubare Mischung aus Traditionsstrenge und Freizügigkeit gepflegt. Einerseits zeugte jede Bewegung beim Kochen, Servieren, Essen von höchster Konzentration und Genauigkeit, andererseits sah Ernst – da der Speiseraum sich unmittelbar an die offene Küche anschloss –, dass Nakata Masami den kostbaren Pulvertee aufschlug, als wären es Eier für Omelett, und die Schalen anschließend in die Spülmaschine räumte, ohne auch nur so zu tun, als nehme sie eine zeremonielle Reinigung vor, wie es sich gehört hätte. Das Gespräch kreiste um europäische Kunst, europäische Musik, das Meer, den Rhein, die Berge; Ernst erfuhr, dass Nakata Seiji, ehe er sich entschieden hatte, Keramiker zu werden, anderthalb Jahre Mitglied einer Gruppe junger Musiker gewesen war, die in einer abgelegenen Gegend des Hinterlands lebten, um die Geister der traditionellen Trommeln wieder auferstehen zu lassen, während Nakata Masami moderne Malerei an der Tokioter Kunsthochschule studiert hatte.
Um die Fahrt zu den Keramikern ging es an diesem Abend nicht einmal am Rande, so dass Ernst, als er kurz vor Mitternacht das Haus verließ, sich fragte, welchen Zweck Nakatas mit ihrer Einladung zu einem aus neun Gängen bestehenden Kaiseki-Menü mit anschließendem Tee eigentlich verfolgt hatten. „Ton ab, Kamera ab.“„Ton läuft.“„Kamera läuft.“„Klappe sechzehn, die erste.“
Ernst saß im Schneidersitz auf dem Werkstattboden. Er hielt vier lange Latten in den Händen, die im vorderen Viertel mit einer Art Bastschnur verflochten waren. Das Stativ war so weit heruntergedreht, dass sich die Kamera auf einer Höhe mit seinen Augen befand. Thomas Gerber hockte sichtlich unbequem dahinter und fragte: „Ernst, was machst du da?“
„Ich stelle für Herrn Yamashiro eine Art . . . ein spezielles Werkzeug her, das er zum Mauern des Gewölbes benötigt.“
„Das Material sieht nicht gerade sehr japanisch aus, als Außenstehender würde ich eher vermuten . . .“„Es handelt sich um Fußleisten.“„Fußleisten?“„Genau. Normalerweise müsste man gespaltene Bambusstangen verwenden, aber da sie in der Qualität und Dicke, die wir benötigt hätten, nicht zu bekommen waren, mussten wir improvisieren. Deshalb bin ich in den Baumarkt gefahren und habe geschaut, was wir alternativ nehmen können. Das Ganze muss am Ende sehr biegsam sein. Es wird zwischen die Seitenwände gespannt und bildet einen halben Kreisbogen, auf dem Herr Yamashiro dann das Gewölbe mauert. Jetzt knote oder webe – ich weiß nicht genau, wie man das textiltechnisch bezeichnen würde –, ich verflechte diese vier Leisten so fest miteinander, dass sie nachher quasi wie ein Brett zusammenhalten, und dabei müssen sie gleichzeitig so flexibel bleiben wie lange Latten.“
„Sieht kompliziert aus. Hast du so etwas während deiner Ausbildung in Japan schon mal gemacht?“
(Fortsetzung folgt)