„Grundrechtsänderung darf kein Tabu sein“
Der EU-Kommissar hält die deutschen Standards im Asylverfahren und bei den Leistungen für zu hoch.
Wie kann Deutschland die anderen EU-Länder dazu bringen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
OETTINGER Es gab einen Mehrheitsbeschluss der EU-Staaten, 160.000 Flüchtlinge auf die Länder nach einer festgelegten Quote zu verteilen. Dieser Beschluss wurde nicht einstimmig gefällt, sondern Rumänien, die Slowakei, Ungarn und Tschechien haben dagegen gestimmt. Es gibt jetzt sogar eine Reihe von Mitgliedstaaten, die gegen den Beschluss vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Allein das zeigt, wie mühevoll die Verteilung ist. Eigentlich müssten wir ja an die 160.000 eine Null dranhängen. Eigentlich müssten 1,6 Millionen Flüchtlinge auf alle EU-Staaten verteilt werden, wenn wir der Realität in diesem Jahr gerecht werden wollen. Das wird nicht möglich sein.
Von einer Verteilquote in der EU müssen wir Deutsche uns also verabschieden?
OETTINGER Einer Verteilquote in der EU, die in einer höheren Dimension läge als der vorliegende Beschluss über die Verteilung von 160.000, gebe ich keine Chance. Polen etwa wird einer Verteilquote nicht mehr zustimmen, auch nicht, wenn es wieder eine andere Regierung hätte.
Was machen wir, wenn die Verteilquote in der EU nicht durchsetzbar ist?
OETTINGER Der richtige Weg ist, menschenwürdige Unterkünfte in den Flüchtlingslagern und Herkunftsländern aus europäischen Kassen zu finanzieren und darauf aufbauend Kontingente festzulegen, die kontrolliert nach Europa kommen. Diese Kontingente müssen natürlich erheblich geringer sein als die Zahl der Flüchtlinge, die 2015 nach Europa gekommen sind.
Warum können wir die Aufnahme von Flüchtlingen nicht erzwingen, indem wir Ländern wie Polen Mittel aus den EU-Töpfen verweigern?
OETTINGER Ich halte das für keine Lösung. Man sollte nicht mit EUHaushaltsmitteln versuchen, Politik zu machen. Wir Deutsche sind zwar EU-Nettozahler, das heißt, wir zahlen mehr ein, als wir herausbekommen. Aber von den Strukturprogrammen, die nach Slowenien, Polen oder andere EU-Länder gehen, kommen 80 Prozent zu uns zurück in Form von Aufträgen für die Wirtschaft. Hinzu kommt: Die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland und Österreich wurde nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt. Die anderen Länder sagen: Wir wurden nicht gefragt. Also wollen wir auch nicht im Nachhinein genötigt werden, dies zu unterstützen.
Nun ja, die Flüchtlinge sind nun mal in Massen über die Türkei nach Griechenland und dann ungehindert Richtung Norden geströmt, da blieb Deutschland keine Wahl. Sonst hätte es Gewaltausbrüche und humanitäre Katastrophen gegeben…
OETTINGER Schon klar. Aber in vielen Mitgliedstaaten sitzen den Regierungen Rechtspopulisten im Nacken. Die Gefahr der Abwahl der jetzigen Regierungen wegen dieses Themas ist groß.
Warum ist Deutschland so ein Magnet für Flüchtlinge, wie Sie es genannt haben?
OETTINGER Wir müssen uns fragen, warum in diesem enormen Ausmaß Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen. Das hat zuallererst mit unserem ausgeprägten Asylverfahrensrecht und Asylleistungsrecht zu tun. Das fängt beim Recht an, einen Rechtsanwalt seiner Wahl zu bestimmen, es geht über die viel zu lange Asylverfahrensdauer bis hin zu den guten Asylbewerber-Leistungen. Eine Harmonisierung des Asylrechts aller EU-Staaten entlang unserer europäischen Werte würde die Magnetfunktion Deutschlands verringern.
Für die SPD ist eine Änderung des Grundrechts auf Asyl eine rote Linie, die sie niemals überschreiten würde.
OETTINGER Das mag sein. Aber ich behaupte, das Thema wird bleiben. Ich erinnere mich gut an die 90er Jahre. Damals hat es auch vier Jahre gedauert, bis man den AsylrechtsArtikel 16 im Grundgesetz ergänzt hat. Die Debatte über eine Änderung des Asyl-Grundrechts in Deutschland darf kein Tabu sein.
Warum wird diese Debatte in Deutschland so verschämt geführt?
OETTINGER Der Versuch, Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, im Nachhinein über eine Quote auf andere EU-Länder zu verteilen, ist ja im Grunde schon der Versuch, die asylrechtliche Praxis zu harmonisieren. Die Debatte über eine Verteilquote wäre entbehrlich, wenn wir das Asylrecht schon EUweit angeglichen hätten.
Warum legt die EU-Kommission dazu keinen eigenen Vorschlag vor?
OETTINGER Die EU-Kommission hat bereits weitgehende eigene Vorschläge zur Sicherung der EU-Außengrenzen und zur Verteilung der Flüchtlinge vorgelegt. Ich halte auch einen Vorschlag der EU-Kommission zur Harmonisierung des Asylrechts für denkbar. Aber letztendlich handeln wir im Interesse der Mitgliedstaaten. Deshalb handeln wir zuallererst dann, wenn uns die Staaten auffordern, einen solchen Vorschlag vorzulegen. BIRGIT MARSCHALL FÜHRTE DAS INTERVIEW.