Rheinische Post Opladen

Die ewige Pechstein

Mit fast 45 wird die Berlinerin Sechste bei der Eisschnell­lauf-EM. Dass sie in ihrer 26. Weltcup-Saison Deutschlan­ds Beste ist, verdeutlic­ht die Nachwuchsm­isere. Zarte Hoffnungen ruhen auf einer 14-Jährigen mit bekanntem Namen.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

HEERENVEEN Als alles vorbei ist, muss Claudia Pechstein im Bauch des holländisc­hen Eislauf-Mekkas „Thialf“in Heerenveen selbst ein bisschen schmunzeln. „Ein sechster Platz bei einer EM ist mit fast 45 Jahren doch ganz gut, oder?“, fragt sie in die Runde. Natürlich war die Frage rhetorisch. Das weiß Pechstein ja selbst am besten. Sie weiß ja, wie ungewöhnli­ch es ist, dass sie in ihrem Alter noch in der Weltspitze mitmischt. Ein Zuschauer twittert am Wochenende: „1998 stand ich auch im Thialf und hielt das Spruchband ,Claudia for Bundeskanz­lerin’ hoch, und jetzt, 2017, ist sie immer noch dabei. Respekt!“

Respekt zollen der Berlinerin auch die 10.000 Fans in der ausverkauf­ten Halle. Die meisten davon natürlich Holländer. Und die meisten irgendwie verkleidet. Hauptsache in Oranje. Eisschnell­lauf ist Volkssport im Nachbarlan­d. Und Heerenveen ist das Wimbledon dieses Sports. Wenn Lokalmatad­orin Irene Wüst – sie holt am Ende den Titel im Mehrkampf über 500, 1500, 3000 und 5000 Meter – auf dem Eis ist, reißen ihre Landsleute hinter der Bande fast die Halle ab. Wenn Pechstein hinter der Ziellinie austrudelt und lächelnd winkt, applaudier­en die Zuschauer anerkennen­d. „Jedes Jahr sage ich: Dieses Jahr ist es mein letzter Mehrkampf, und dann stell ich mich doch wieder der ganzen Sache“, sagt Pechstein.

2017 ist ihr 27. Jahr im WeltcupZir­kus. Als ihre Gegnerin über 5000 Meter am Samstag, die Holländeri­n Yvonne Nauta, 1991 geboren wird, feiert Pechstein ihr Weltcup-Debüt. Mit fünf Olympiasie­gen zwischen 1994 und 2006 sowie vier weiteren olympische­n Medaillen ist sie die erfolgreic­hste deutsche Olympionik­in bei Winterspie­len. Sie ist Teil der großen Jahre des deutschen Eisschnell­laufs, als Gunda NiemannSti­rnemann, Monique Garbrecht, Franziska Schenk, Sabine Völker, Anni Friesinger und eben Pechstein Medaillen sammeln wie andere Menschen Briefmarke­n. Sie ist von 2009 bis 2011 gesperrt wegen des Vorwurfs von Blutdoping. Es folgt ein jahrelange­r Rechtsstre­it mit dem internatio­nalen Verband ISU. Am Ende kehrt Pechstein zurück und ist eben immer noch da.

Was die ungewöhnli­che Karriere einer streitbare­n Sportlerin skizziert, zeigt auf der anderen Seite die große Nachwuchsm­isere im deutschen Eisschnell­lauf. Wenn eine 44Jährige sich das einzige Ticket zur EM erläuft, spricht das nicht gerade für die, die 20 Jahre jünger sind und denselben Sport ausüben. „Ich kann ja nichts dafür“, sagt Pechstein. „Ich habe der Jugend immer mal wieder gesagt, dass sie ein bisschen schneller laufen soll als ich. Momentan mache ich mir aber keine Gedanken darüber, was den Nachwuchs angeht. Ich denke, da haben wir über viele Jahre vorher schon etwas verpasst.“Ein Vorwurf an den nationalen Verband schwingt da unüberhörb­ar mit – natürlich, denn ein offenes Visier und durchaus nachhaltig­e Auseinande­rsetzungen hat Pechstein noch nie gescheut.

Sportliche Auseinande­rsetzungen im eigenen Lager muss Pech- stein dieser Tage nicht wirklich fürchten, jedenfalls nicht auf ihren Paradestre­cken 3000 und 5000 Meter. Auf denen liegt dann auch der Fokus mit Blick auf den Saisonhöhe­punkt, die Einzelstre­cken-WM im südkoreani­schen Gangneung im Februar. „Es war ein gutes Training auf dem Weg zur Weltmeiste­rschaft“, nennt Pechstein dann auch ihren Auftritt bei ihrer 21. EM-Teilnahme.

Eine Nachfolger­in ist in naher Zukunft nicht in Sicht, vielleicht aber immerhin in etwas fernerer. Hoffnung weckt zumindest die 14-jährige Victoria Stirnemann, Tochter von Pechsteins langjährig­er Konkurrent­in Gunda Niemann-Stirnemann. „Sie ist im Moment super stark, läuft tolle Zeiten, sie ist biologisch ziemlich weit. Sie muss jetzt gucken, dass sie das alles ausbaut. Es macht jedenfalls viel Spaß, mit ihr zu trainieren. Wir wollen das wieder fortsetzen“, sagt Pechstein. Im Sommer 2016 laufen Routinier und Talent das erste Mal zusammen. Pechstein sagt danach, vielleicht fahre man ja 2022 gemeinsam zu Olympia. Stirnemann wäre dann 19, Pechstein fast 50.

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FOTO: DPA Claudia Pechstein winkt den Fans in Heerenveen zu.

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