Die ewige Pechstein
Mit fast 45 wird die Berlinerin Sechste bei der Eisschnelllauf-EM. Dass sie in ihrer 26. Weltcup-Saison Deutschlands Beste ist, verdeutlicht die Nachwuchsmisere. Zarte Hoffnungen ruhen auf einer 14-Jährigen mit bekanntem Namen.
HEERENVEEN Als alles vorbei ist, muss Claudia Pechstein im Bauch des holländischen Eislauf-Mekkas „Thialf“in Heerenveen selbst ein bisschen schmunzeln. „Ein sechster Platz bei einer EM ist mit fast 45 Jahren doch ganz gut, oder?“, fragt sie in die Runde. Natürlich war die Frage rhetorisch. Das weiß Pechstein ja selbst am besten. Sie weiß ja, wie ungewöhnlich es ist, dass sie in ihrem Alter noch in der Weltspitze mitmischt. Ein Zuschauer twittert am Wochenende: „1998 stand ich auch im Thialf und hielt das Spruchband ,Claudia for Bundeskanzlerin’ hoch, und jetzt, 2017, ist sie immer noch dabei. Respekt!“
Respekt zollen der Berlinerin auch die 10.000 Fans in der ausverkauften Halle. Die meisten davon natürlich Holländer. Und die meisten irgendwie verkleidet. Hauptsache in Oranje. Eisschnelllauf ist Volkssport im Nachbarland. Und Heerenveen ist das Wimbledon dieses Sports. Wenn Lokalmatadorin Irene Wüst – sie holt am Ende den Titel im Mehrkampf über 500, 1500, 3000 und 5000 Meter – auf dem Eis ist, reißen ihre Landsleute hinter der Bande fast die Halle ab. Wenn Pechstein hinter der Ziellinie austrudelt und lächelnd winkt, applaudieren die Zuschauer anerkennend. „Jedes Jahr sage ich: Dieses Jahr ist es mein letzter Mehrkampf, und dann stell ich mich doch wieder der ganzen Sache“, sagt Pechstein.
2017 ist ihr 27. Jahr im WeltcupZirkus. Als ihre Gegnerin über 5000 Meter am Samstag, die Holländerin Yvonne Nauta, 1991 geboren wird, feiert Pechstein ihr Weltcup-Debüt. Mit fünf Olympiasiegen zwischen 1994 und 2006 sowie vier weiteren olympischen Medaillen ist sie die erfolgreichste deutsche Olympionikin bei Winterspielen. Sie ist Teil der großen Jahre des deutschen Eisschnelllaufs, als Gunda NiemannStirnemann, Monique Garbrecht, Franziska Schenk, Sabine Völker, Anni Friesinger und eben Pechstein Medaillen sammeln wie andere Menschen Briefmarken. Sie ist von 2009 bis 2011 gesperrt wegen des Vorwurfs von Blutdoping. Es folgt ein jahrelanger Rechtsstreit mit dem internationalen Verband ISU. Am Ende kehrt Pechstein zurück und ist eben immer noch da.
Was die ungewöhnliche Karriere einer streitbaren Sportlerin skizziert, zeigt auf der anderen Seite die große Nachwuchsmisere im deutschen Eisschnelllauf. Wenn eine 44Jährige sich das einzige Ticket zur EM erläuft, spricht das nicht gerade für die, die 20 Jahre jünger sind und denselben Sport ausüben. „Ich kann ja nichts dafür“, sagt Pechstein. „Ich habe der Jugend immer mal wieder gesagt, dass sie ein bisschen schneller laufen soll als ich. Momentan mache ich mir aber keine Gedanken darüber, was den Nachwuchs angeht. Ich denke, da haben wir über viele Jahre vorher schon etwas verpasst.“Ein Vorwurf an den nationalen Verband schwingt da unüberhörbar mit – natürlich, denn ein offenes Visier und durchaus nachhaltige Auseinandersetzungen hat Pechstein noch nie gescheut.
Sportliche Auseinandersetzungen im eigenen Lager muss Pech- stein dieser Tage nicht wirklich fürchten, jedenfalls nicht auf ihren Paradestrecken 3000 und 5000 Meter. Auf denen liegt dann auch der Fokus mit Blick auf den Saisonhöhepunkt, die Einzelstrecken-WM im südkoreanischen Gangneung im Februar. „Es war ein gutes Training auf dem Weg zur Weltmeisterschaft“, nennt Pechstein dann auch ihren Auftritt bei ihrer 21. EM-Teilnahme.
Eine Nachfolgerin ist in naher Zukunft nicht in Sicht, vielleicht aber immerhin in etwas fernerer. Hoffnung weckt zumindest die 14-jährige Victoria Stirnemann, Tochter von Pechsteins langjähriger Konkurrentin Gunda Niemann-Stirnemann. „Sie ist im Moment super stark, läuft tolle Zeiten, sie ist biologisch ziemlich weit. Sie muss jetzt gucken, dass sie das alles ausbaut. Es macht jedenfalls viel Spaß, mit ihr zu trainieren. Wir wollen das wieder fortsetzen“, sagt Pechstein. Im Sommer 2016 laufen Routinier und Talent das erste Mal zusammen. Pechstein sagt danach, vielleicht fahre man ja 2022 gemeinsam zu Olympia. Stirnemann wäre dann 19, Pechstein fast 50.