„Kinderreiche Familien sind selten“
Der Wiesbadener Bevölkerungsforscher über Geburtenrate und Migration.
Herr Bujard, die Geburtenrate in Deutschland ist so hoch wie seit über 30 Jahren nicht mehr. Ist das ein Grund zur Freude?
BUJARD Auf jeden Fall. Im internationalen Vergleich lag Deutschland bei den Geburtenzahlen lange weit zurück – jetzt geht es endlich wieder etwas bergauf. Die Geburtenrate ist mit 1,5 aber noch deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau von 2,1.
Wieso bekommen die Deutschen wieder mehr Kinder?
BUJARD Das hat zwei Gründe. Zum einen wirkt sich der Ausbau der Kinderbetreuung in den vergangenen 15 Jahren positiv aus. Mütter haben es heute leichter, Beruf und Familie zu vereinen. Zum zweiten ist durch die Zuwanderung der Anteil der Frauen mit Migrationshintergrund gestiegen. Deren Geburtenraten sind im Durchschnitt höher als die von Müttern ohne Migrationshintergrund.
Warum gab es überhaupt so lange zu wenig Nachwuchs?
BUJARD Viele glauben, das liege an den vielen kinderlosen Frauen und Männern. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Die Kinderlosigkeit hat sich zwar von elf Prozent bei den heute 80-jährigen Frauen auf 21 bis 22 Prozent bei den heutigen Endvierzigern verdoppelt. Dies trägt aber nur zu rund ein Viertel zum Geburtenrückgang bei. Viel entscheidender ist, dass die Zahl der kinderreichen Familien zurückgegangen ist, also immer weniger Paare drei oder mehr Kinder bekommen. Diese Veränderung ist für fast 70 Prozent des Geburtenrückgangs verantwortlich.
Hat die Großfamilie also ein schlechtes Image?
BUJARD In unserer Studie zu Familienleitbildern haben wir gefragt, wie Menschen unter 40 Jahren persönlich über kinderreiche Menschen denken und wie sie deren Bild in der Gesellschaft einschätzen. Nur acht Prozent bezeichneten Großfamilien als asozial, aber 70 Prozent glaubten, die Gesellschaft sehe das so. Es wird also ein schlechtes Image vermutet, dass es so gar nicht gibt – zumindest nicht in der jungen Generation. Die Vorurteile stammen offensichtlich aus früheren Zeiten: Heute weiß man nur noch, dass es sie gibt, aber nicht mehr, warum.
Muss die Politik dabei helfen, die Geburtenrate zu erhöhen?
BUJARD Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist Privatsache. Der Kinderwunsch ist kulturell geprägt und von außen schwer steuerbar. Bessere Betreuungsmöglichkeiten können aber helfen, dass Paare ihre Kinderwünsche auch realisieren.
Wie wird sich die Geburtenrate entwickeln?
BUJARD Das kann kein Experte vorhersehen. Was wir aber wissen: Frauen, die Ende der 70er geboren wurden, werden im Schnitt etwa 1,6 Kinder bekommen. TIM SPECKS FÜHRTE DAS INTERVIEW.