Gehört der Doppelpass abgeschafft?
Sie halten das für einen Witz? Mir ging es ähnlich: Der Chefredakteur einer Wochenzeitung aus Hamburg bekannte so öffentlich wie treuherzig, er habe bei der Europawahl 2014 zweimal seine Stimme abgegeben. Er habe gedacht, als Deutsch-Italiener sei ihm das gestattet. War es natürlich nicht, er bekam ein Bußgeld. Was er getan hat, widersprach dem ehernen demokratischen Gleichheitsprinzip, wonach jeder Wahlberechtigte pro Wahl nur eine Stimme hat: One man, one vote.
Zu fragen wäre, ob der urdemokratische Grundsatz nicht ebenfalls tangiert ist, wenn ein zugewanderter Doppelstaatler im April an der Abstimmung in der Türkei und im September an der Bundestagswahl teilnimmt. Anders als im eingangs geschilderten Fall wäre das nicht verboten. Ein Mensch mit mehreren Staatsangehörigkeiten ist ein privilegierter demokratischer Souverän. Ich nenne ihn einen Rosinenpicker.
Absurd wird es, wenn es sich um einen Souverän der Sonderklasse handelt, der nicht zwei, vielmehr drei oder gar vier Pässe besitzt und daraus (Wahl-)Rechte ableitet. Nichts gegen ein Willkommen all derjenigen, die dieses Land zu ihrem machen möchten und sich deshalb ohne Wenn und Aber für den deutschen Pass entscheiden. Aber wer glaubt, dass ein weitgehendes „Alles ist möglich in der Villa Kunterbunt“bei der Wahl von Staatsbürgerschaften der Integration dient, der hält womöglich auch den einen oder anderen morgenländischen Führer für einen lupenreinen Demokraten. Die beiden politisch unterschiedli-
Nun erinnern sich viele, die wegen Willy Brandt Sozialdemokraten wurden und Karriere in der SPD machten, dass da noch einer war: Horst Ehmke ist im Alter von 90 Jahren in Bonn gestorben. Er war der jüngste Justizminister in der ersten großen Koalition und räumte dann als Kanzleramtsminister für Brandt ab 1969 in der Regierungszentrale derart gründlich auf, dass er bald als der „flotte Hotte“bekannt und gefürchtet war. Gutbürgerlich in Danzig aufgewachsen, bei der Hitlerjugend leidenschaftlicher Segelflieger geworden, ohne sein Wissen als NSDAP-Mitglied geführt und 1944 noch eingezogen und in Gefan- chen Publizisten Hugo Müller-Vogg und Jakob Augstein haben recht: Die doppelte Staatsbürgerschaft war mal ein progressives, gut gemeintes Projekt, aber sie war ein Irrtum. Warum sollte der Gesetzgeber diejenigen privilegieren, die sich aus zwei Welten jeweils das Beste herauspicken? Entscheidungen gehören zum Leben: bei der Berufswahl oder der Auswahl des Lebensmittelpunktes. Also ist es keine Zumutung, von einem ZuwandererKind mit Pass der Eltern und zusätzlich deutschem Pass bei Eintritt der Volljährigkeit beziehungsweise Geschäftsfähigkeit eine reife Entscheidung für eine Staatsangehörigkeit zu verlangen.
Ausnahmen von dieser vernünftigen Regel sprechen nicht gegen Letztere. Das Festhalten an mehreren Staatsbürgerschaften ohne die Pflicht, sich bei Volljährigkeit für oder gegen den deutschen Pass zu entscheiden, oder gar Überlegungen von Integrationsbeauftragten, das Pässe-Allerlei noch großzügiger zu dulden, fördern politisch-staatsbürgerlichen Opportunismus; sie unterminieren Eingliederungsbemühungen und ziehen die politisch, rechtlich, kulturell bedeutende Staatsangehörigkeit herunter auf eine vergleichsweise läppische Tennisklub- oder Heimatvereinsmitgliedschaft.
Wer derzeit die Befürworter einer Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft hört, kann den Eindruck gewinnen, die öffentliche Ordnung der Bundesrepublik stehe vor dem Zusammenbruch, weil Haufen wildgewordener Deutschtürken hierzulande ihre Loyalitätskonflikte auslebten. So ist es aber nicht ganz – zu verzeichnen sind (zugegeben: unsägliche) Auftritte türkischer Minister, einige Handgreiflichkeiten und Demonstrationen.
Hinter der Agitation gegen den Doppelpass (der sich sogar der CDU-Parteitag hingegeben hat) steht das stillschweigende Versprechen, dann habe es ein Ende mit türkischer Innenpolitik in Deutschland. Das freilich ist entweder naiv oder hinterhältig – von den gut 2,7 Millionen türkischstämmigen Menschen in der Bundesrepublik haben nur einige Hunderttausend (die genaue Zahl ist nicht bekannt) beide Pässe. 1,5 Millionen besitzen lediglich den türkischen Pass. Erdogans Propaganda könnte munter weitergehen. Sein Hebel ist nicht der Doppelpass, sondern die historisch gewachsene Demografie der Bundesrepublik. Und die lässt sich nicht einfach abschaffen.
Mit den Zahlen ist der Wunsch, beim Staatsbürgerschaftsrecht so richtig aufzuräumen, also nicht zu erklären. Eher schon mit dem Gefühl, nun doch mal ein Exempel statuieren zu müssen an diesen frechen Türken. Solche Aufwallungen aus der Tiefe des Bauches sind allerdings selten ein guter Ratgeber. Dieser Fall ist keine Ausnahme. Das entscheidende Argument für den Doppelpass ist grundsätzlich: Wir alle haben vielfältige Identitäten. Man kann evangelisch sein und zugleich Karnevalist, Münchner und BVB-Anhänger, neuerdings sogar Schützenkönig und (offen) schwul. Wir haben gelernt, mit Kontrasten zu leben. Es ist nicht einzusehen, warum das für die Staatsbürgerschaft nicht gelten sollte. Mit der Abschaffung der Optionspflicht hat es der Staat Hunderttausenden jungen Menschen erspart, sich für eine ihrer Identitäten zu entscheiden und die andere gleichsam symbolisch wegzuwerfen. Und ganz nebenbei: Soll man den Doppelpass dann nur für Türken abschaffen? Was ist mit Polen (Kaczynski!), Russen (Putin!), Arabern (Islam!)? All das sind ebenfalls Gruppen in sechsstelliger Stärke.
Am Ende steht die Frage: Was spricht denn gegen den Doppelpass? Da wird die Luft schnell dünn. Das alte Argument, „man“müsse sich eben entscheiden, taugt jedenfalls in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Pluralität und globaler Vernetzung nicht mehr. Nein, wir können mehr als Entweder-oder. Zu glauben, Doppelstaatler überforderten die Gesellschaft, ignoriert unsere politische und wirtschaftliche Geschichte. Oder kürzer: Den Doppelpass abschaffen zu wollen, ist Politik von gestern. war. „Brandt hat geschaudert, wie ich das Kanzleramt gleich neu besetzt habe“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. „Aber sonst hätten wir gar nicht regieren können“, fügte er hinzu. Ehmke räumte mit Jahrzehnten CDU-Kanzlerschaft auf. Und so fasst die heutige SPDGeneralsekretärin Katarina Barley das Format Ehmke in die Formel: „Ohne ihn wäre Willy Brandt nicht Kanzler geworden.“Ehmke verließ bei Brandts Sturz über die Guillaume-Spionage-Affäre ebenfalls das Kabinett – sein Verständnis von Solidarität. 1984 verließ er auch den Bundestag und begann, Krimis zu schreiben. Auch, um Politik besser erklären zu können. Gregor Mayntz
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