695.000 Anträge auf Rente mit 63
Die Chefin der Rentenversicherung über die Erhöhung von Mütterrente und Rentenniveau sowie eine Pflichtversicherung für Selbstständige.
BERLIN Seit Jahresanfang ist Gundula Roßbach Chefin der Deutschen Rentenversicherung. Wir sprachen mit der 52-jährigen Juristin über die Zukunft der Renten und Beiträge.
Rentner können sich im Sommer auf ein Plus freuen. Wie sehen Ihre Schätzungen für die nächsten Jahre aus?
ROSSBACH Ich freue mich, dass auch die Rentner von der guten Wirtschaftsentwicklung profitieren. Seit 2012 sind die Renten im Westen um insgesamt über 10 Prozent gestiegen, im Osten um rund 19 Prozent. Das zeigt, dass die Rentenversicherung gut aufgestellt ist. Für die nächsten Jahre rechnen wir aus heutiger Sicht mit weiteren Erhöhungen pro Jahr in einer Größenordnung um die zwei Prozent.
Seit Jahren steigen die Westrenten weniger stark als die Ostrenten. Wird der Westen benachteiligt?
ROSSBACH Nein, der Osten holt aber bei den Löhnen auf und das spiegelt sich in den Renten wider. Der aktuelle Anstieg der Ostrenten um 3,59 Prozent resultiert unter anderem daraus, dass der Mindestlohn auch in den neuen Bundesländern gegriffen hat.
Bei der Mütterrente zahlt die Rentenkasse drauf. Wie viel?
ROSSBACH Die Finanzierung der Kindererziehungszeiten der Frauen, die nach 1992 Kinder geboren haben, ist aus Sicht der Rentenversicherung kein Problem. Für sie werden drei Jahre Kindererziehungszeit berücksichtigt, wofür der Bund Beiträge zahlt. Für die über 9,4 Millionen Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, werden seit 2014 zwei Jahre Kindererziehungszeit berücksichtigt. Hier erstattet uns der Bund derzeit nur Geld für das erste Jahr. So finanzieren die Beitragszahler jährlich Leistungen von rund sieben Milliarden Euro. Wir fordern, dass der Bund seine Bundesmittel entsprechend erhöht.
Nun gibt es sogar Forderungen, die älteren Mütter komplett gleichzustellen. Was halten Sie davon?
ROSSBACH Gesellschaftspolitisch kann ich das nachvollziehen, zumal Mütter im Westen, die Kinder vor 1992 geboren haben, weniger Betreuungsmöglichkeiten hatten. Doch wenn die Politik so etwas beschließt, muss sie auch für die sachgerechte Finanzierung sorgen.
Belastet die Rente mit 63 ebenfalls die Rentenkasse?
ROSSBACH Auch diese Neuregelung hat zu nicht unerheblichen Mehrkosten geführt. Allerdings läuft die Regelung aus. Im Zuge der Anhebung des Rentenalters wächst sie auch zur Rente mit 65. Aktuell kann man frühestens mit 63 Jahren und vier Monaten abschlagsfrei in Rente gehen.
Ist die Rente mit 63 noch ein Renner?
ROSSBACH Das Interesse ist weiter hoch. 2015 hatten wir 247.000 Anträge auf die neue Rente ab 63, 2016 lagen wir mit 241.000 Anträgen geringfügig darunter. Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Juli 2014 bis Ende letzten Jahres haben wir 695.000 Anträge bekommen. Das liegt innerhalb unserer Erwartungen.
Trotzdem bleiben es Wahlgeschenke von 2013. Weder die Mütterrente noch die Rente mit 63 lindern Altersarmut.
ROSSBACH Stimmt. In den Fällen, in denen die Mütterrente vollständig auf die Grundsicherung angerechnet wird, hilft sie armen Rentnerinnen wenig. Und die Rente mit 63 nutzen vor allem Männer, die lückenlos erwerbstätig waren und gut verdient haben.
Fürchten Sie im Wahlkampf 2017 einen Überbietungswettbewerb bei Renten-Versprechen?
ROSSBACH Wir sind stets gut damit gefahren, wenn wir Rentenpolitik langfristig und im Konsens der großen Parteien gestaltet haben. Das hat maßgeblich zum sozialen Zusammenhalt und zu unserer auch in schwierigen Zeiten insgesamt gut funktionierenden Alterssicherung beigetragen. Ich kann vor überzogenem Streit über die Rente im Wahlkampf nur warnen.
Wie bei der Rente mit 67 ...
ROSSBACH Die Maßnahme wirkt. Wegen der drohenden Abschläge ist das faktische Renteneintrittsalter mittlerweile auf 63,9 Jahre bei Männern und 64,1 Jahre bei Frauen gestiegen. Dazu hat auch die gute Arbeitsmarktsituation beigetragen.
Die Wirtschaftsweisen fordern eine weitere Anhebung. Brauchen wir die Rente mit 70?
ROSSBACH Jetzt ist nicht die Zeit, um über eine weitere Anhebung nachzudenken. Wir haben ja noch nicht mal die Rente mit 67 voll umgesetzt, das ist erst 2031 der Fall. Wir sollten uns aber die Entwicklung nach 2020 ansehen und dann über die Frage beraten.
Die SPD will die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I auf 48 Monate erhöhen. Fürchten Sie eine neue Frühverrentungswelle wie in den 1990er Jahren?
ROSSBACH Es kommt natürlich auf die Ausgestaltung des vorgeschlagenen Arbeitslosengeld Q an, das für Menschen in Qualifizierungskursen gezahlt werden soll. Allerdings muss man sehen, dass Zeiten des Arbeitslosengeld I–Bezugs von Ausnahmen abgesehen in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht auf die 45 Versicherungsjahre für die abschlagsfreie Altersrente ab 63 angerechnet werden.
Wie sollte es aussehen?
ROSSBACH Um nicht gewollte Effekte zu verhindern, sollte man durch entsprechende Regelungen sicherstellen, dass der Arbeitslose seine Qualifizierung auch nutzt und weiter arbeitet anstatt nahtlos von vier Jahren Arbeitslosigkeit in die Frührente zu wechseln.
Arbeitsministerin Nahles will Haltelinien beim Rentenniveau einziehen. Können wir uns das leisten?
ROSSBACH Derzeit liegt das Rentenniveau bei 48 Prozent des Nettolohns, nach unseren Schätzungen wird es bis 2030 auf 44,6 Prozent sin- ken und bis 2045 auf 41,7 Prozent. Es ist eine politische Frage, ob wir Löhne und Renten so auseinanderlaufen lassen wollen. Klar ist: Wenn das Rentenniveau nicht tiefer als 46 Prozent fallen darf, wirkt sich das natürlich auch auf den Beitragssatz aus...
...den Nahles auf maximal 25 Prozent bis 2045 deckeln will.
ROSSBACH Dann muss man der Rentenkasse neue Finanzquellen erschließen, etwa indem man, wie von Frau Nahles vorgeschlagen, die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse erhöht. Klar ist: Eine Anhebung des Rentenniveaus kostet viel Geld.
Was können Selbstständige bringen?
ROSSBACH Ich würde eine Versicherungspflicht für Selbstständige begrüßen – auch im Interesse der Selbstständigen. Selbstständige sind überproportional von Altersarmut bedroht. Fast vier Prozent von ihnen sind im Alter auf Grundsicherung angewiesen, aber nur rund zwei Prozent der ehemals abhängig Beschäftigten.