Berlin hält an Abschiebungen nach Afghanistan fest
BERLIN Der verheerende Anschlag in Kabul hat die Debatte über Abschiebungen von afghanischen Flüchtlingen aus Deutschland erneut anschwellen lassen. Eine bereits terminierte Sammelabschiebung sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ab. Er begründete die Entscheidung damit, dass die für die Abschiebung nötigen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul wegen des Anschlags derzeit anderes zu tun hätten.
Die Grünen forderten die Bundesregierung auf, auch alle weiteren Abschiebungen auszusetzen. „Wenn die angeblich sicheren Gebiete in Afghanistan noch nicht einmal die Hauptstadt umfassen – wo sind sie dann?“, fragte Grünen-Außenexperte Omid Nouripour. Die Bundesregierung dürfe deshalb nicht noch mehr Menschen der terroristischen Bedrohung aussetzen, verlangte Flüchtlingsexpertin Luise Amtsberg.
Bereits vor dem neuen Attentat hatten zahlreiche Flüchtlingsorga- nisationen zum Abschiebestopp nach Afghanistan aufgerufen. Eine Nachprüfung von Ablehnungsbescheiden habe ergeben, dass neue Informationen zur gefährlichen Lage in Afghanistan nicht berücksichtigt würden. Die Sicherheitslage sei wegen der derzeit laufenden Frühjahrsoffensive der radikalislamischen Taliban-Milizen derart unberechenbar, dass sich auch die UN-Flüchtlingshilfeorganisation weigere, zwischen „sicheren“und „unsicheren“Gebieten zu unterscheiden.
Empörung löste eine Polizeiaktion in Nürnberg aus, bei der Beamte einen afghanischen Berufsschüler aus dem Unterricht holten, um ihn zu der eigentlich geplanten Sammelabschiebung zu bringen. Es kam zu Protesten und Sitzblockaden, mit denen bis zu 300 Menschen ihre Solidarität mit dem gut integrierten jungen Afghanen ausdrückten. Bei Auseinandersetzungen setzte die Polizei Pfefferspray ein. Es wurden nach Polizeiangaben neun Beamte verletzt, mehrere Menschen festgenommen.
Die Koalition blieb auch nach dem Anschlag bei ihrer Linie der Abschiebungen. De Maizière will den abgesagten Flug baldmöglich nachholen. Unionsvize Stephan Harbarth rechnet nicht mit einer Neubewertung der Sicherheitslage. „Es gibt Provinzen und Distrikte, in denen die Lage vergleichsweise sicher und stabil ist und in denen Millionen Menschen ihrem Alltag nachgehen“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. So lange seien auch innerstaatliche Fluchtalternativen vorhanden.
Auch SPD-Innenexperte Burkhard Lischka sieht „relativ sichere“Gegenden in Afghanistan. Bei seinen Reisen hätten ihm sehr viele Menschen erklärt, dass sie im Land bleiben und sich ihre Zukunft nicht von Extremisten verbauen lassen wollten. Lischka forderte zugleich die Bundesländer dazu auf, ihre Rückführungspraxis zu vereinheitlichen. „Wir sollten uns – auch im Interesse unserer eigenen inneren Sicherheit – darauf beschränken, Gefährder und schwere Straftäter abzuschieben“, so Lischka.