Das Haus der 20.000 Bücher
Seine Augen, wässrig und gerötet, hinter immer dickeren Brillengläsern, waren seine Rettung, die einzige noch halbwegs funktionierende Verbindung zur Außenwelt. Hin und wieder griff er nach einem Buch und stützte sich, ein wenig vorgebeugt, darauf. Seine Brille rutschte vielleicht einen halben Zentimeter die Nase hinunter; mit den leicht gespreizten Fingern seiner linken Hand hielt er die Seiten offen. Sein rechter Ellbogen ruhte auf einer Ecke des Buches, seine rechte Hand lag mit ebenfalls gespreizten Fingern an seiner Stirn. In Yehezkel Abramskys Biografie
gibt es ein Foto, auf dem Yehezkels Bart so dünn ist, dass er kaum zu erkennen ist, ein schwacher Schatten auf seinem Hemd und seiner Krawatte. In diesem Foto sehe ich Chimen. Es ist genau die gleiche Haltung, die gleiche
King in His Beauty
Atotale Konzentration auf das Wort. Yehezkel wie Chimen waren
Gelehrte.
dei chachamin, talmi-
Abschlüsse Vergebens wühlt der Träumer wie in Schutt in seinen alten Träumen und sucht in ihrer Asche nach einem wenn auch noch so schwachen Fünkchen, um es anzufachen und mit dem neu entzündeten Feuer sein erkaltetes Herz zu erwärmen, um in ihm alles wiederzuerwecken, was ihm einst so teuer war, was die Seele rührte, das Blut in Wallung brachte, Tränen in die Augen trieb und so wunderbar trügte!
Fjodor Dostojewski, Weiße Nächte (1848)
Ende der fünfziger Jahre saß Mimis Mutter Bellafeigel Nirenstein häufig mit düsterer Miene im Wohnzimmer des Hillway. Da sich ihre Gesundheit zusehends verschlechterte, hatte sie ihr Zuhause verlassen müssen und die letzten Jahre ihres Lebens bei Mimi und Chimen verbracht. Die ernsten Züge meiner Urgroßmutter auf Fotos jener Jahre könnten ein Sinnbild für das Wohnzimmer sein, einen schmucklosen Raum ohne jegliche Verspieltheit. Während das vom Sonnenlicht durchflutete Esszimmer heiter wirkte und Chimen dazu animierte, mit Plastikbechern auf dem Kopf herumzutanzen, und während in der Küche fortwährend getratscht und zwanglos geplaudert wurde, regierte im Wohnzimmer im Allgemeinen der Ernst. Es wurde von seinem Mobiliar förmlich niedergedrückt: von den dick gepolsterten Sesseln und Büchern, die von den Regalen auf den Couchtisch, den Fußboden, ja jede freie Oberfläche wanderten und letztlich, gemeinschaftlich mit einer Gruppe schwerer Topfpflanzen, den Zugang zum Kamin versperrten. Anfang der neunziger Jahre wurde es zum Krankenzimmer, zuerst für Mimi und später für Chimen; die Luft war schwer und stickig, es roch nach Medikamenten und Salben, nach den Ausdünstungen von Krankheit und Alter. Die Grundausstattung des Zimmers (wie die des übrigen Hauses) spiegelte den physischen Verfall seiner Eigentümer wider. Die aufklappbare Fensterbank bekam Risse, nachdem Generationen von Gästen sie als zusätzlichen Sitzplatz benutzt hatten. Auf ihrer weißen Oberfläche erschienen Flecken. Aus den Sesseln quoll die Polsterung hervor. Die Beleuchtung schien mit jedem Jahr trüber zu werden, da immer mehr Staub sich auf die Lampenschirme legte. Das Sofabett an der gegenüberliegenden Wand hing mit jedem Jahr ein bisschen stärker durch. (Fortsetzung folgt)