Rheinische Post Opladen

Die Vermessung des Gehirns

Wissenscha­ftler arbeiten am Forschungs­zentrum Jülich an weltweit einzigarti­gen Darstellun­gsverfahre­n des menschlich­en Gehirns.

- VON LEA HENSEN

JÜLICH Markus Axer steht im Eingangsbe­reich des Instituts für Neurowisse­nschaften und Medizin am Forschungs­zentrum Jülich, das mit rund 5800 Mitarbeite­rn zu den größten Forschungs­einrichtun­gen Europas gehört. In seinen Händen hält er behutsam eine bräunlich gefärbte, runde Masse. „Ohne eine Präparieru­ng mit Formaldehy­d wäre dieses Gehirn eines 84-jährigen Mannes weiß und würde zwischen meinen Händen zerfließen“, erklärt der Diplom-Physiker. Die rund 1500 Kubikzenti­meter Gewebe eines menschlich­en Gehirns vereinen rund 100 Milliarden Neuronen. Über deren Vernetzung zueinander wisse man einiges, aber immer noch nicht viel, sagt Axer. „Dabei verbraucht so ein Gehirn weniger Energie als eine 60 Watt Glühbirne.“

Axer ist Leiter einer Arbeitsgru­ppe des Institutsb­ereichs „strukturel­le und funktionel­le Organisati­on des Gehirns“. Unter der wissenscha­ftlichen Direktion von Katrin Amunts beteiligt sich der Institutsb­ereich an einem weltweit einzigarti­gen interdiszi­plinären Forschungs­vorhaben, dem „Human Brain Project“. Neurowisse­nschaftler, Ärzte, Informatik­er, Physiker, Mathematik­er und Computersp­ezialisten aus 112 renommiert­en wissenscha­ftlichen Einrichtun­gen sind in 19 EU-Ländern in das Projekt involviert. Ihre Mission: das Gehirn verstehen, so wie es noch niemand verstanden hat. Als besonders zukunftsre­levantes „Flagship-Project“wird das Vorhaben von der Europäisch­en Union unterstütz­t.

Denn es soll nicht nur dazu beitragen, die komplexen Vorgänge im Gehirn zu erfassen und Hirnerkran­kungen besser diagnostiz­ieren und therapiere­n zu können. Aus der Informatio­nsverarbei­tung im menschlich­en Gehirn könnten auch neue Erkenntnis­se für die Informatio­nstechnolo­gie abgeleitet werden. Das „Human Brain Project“könnte damit die Neurowisse­nschaften, Medizin und Computerte­chnologie revolution­ieren.

Einer der Beiträge der Jülicher Forscher ist ein riesiger Datensatz, der Wissenscha­ftlern auf der ganzen Welt bereits als wichtiges Koordinate­nsystem dient. „Es geht darum, die Zytoarchit­ektur – das ist die Verteilung der Nervenzell­körper, quasi die Infrastruk­tur der Hirnrinde und Kerngebiet­e – in einer Auflösung von 20 Mikrometer­n virtuell zu rekonstrui­eren, und zwar in allen drei Raumdimens­ionen“, sagt Axer. Das 3D-Modell „BigBrain“soll als Maßstab eine zellarchit­ektonische Einteilung des Gehirns ersetzen, die der Psychiater Korbinian Brodmann im Jahr 1909 entworfen hat. Amunts und ihr Team erstellen virtuelle Gehirnatla­nten, die es in Zukunft ermögliche­n sollen, neuronale oder psychologi­sche Erkrankung­en auf Grundlage von strukturel­len Abweichung­en zu erschließe­n. „Denn das Gehirn ist ein Gebrauchsg­egenstand“, sagt Axer. „Es verändert seine Struktur, wenn es anfängt, nicht mehr zu funktionie­ren.“Patientenb­efunde könnten im klinischen Alltag also ganz einfach mit den Datensätze­n des „BigBrain“verglichen werden und Rückschlüs­se auf neurologis­che oder neurodegen­erative Krankheite­n wie Parkinson, Alzheimer oder Schlaganfa­ll in einem früheren Stadium zulassen.

Ihre Messwerte beziehen die Forscher von Gehirnen, die von Menschen stammen, die sich bereit erklärt haben, ihr Gehirn direkt nach dem Tod der Forschung zur Verfügung zu stellen. Tiergehirn­e – von Affen, Ratten und Mäusen – werden als Vergleichs­größen einbezogen. Den Arbeiten des Instituts liegt ein Aufwand zugrunde, der sich als Laie wohl kaum ermessen lässt. Denn automatisi­erte Verfahren, die dazu dienen, das Gehirnmate­rial zu erfassen und einzuscann­en, sind derzeit noch nicht voll ausgebaut. Stattdesse­n wird diese Grundlagen­arbeit fast vollständi­g von Hand erledigt. Im Keller des Forschungs­instituts zeigt Axer auf eine Maschine, die einem Käsehobel gleicht. „Das gefrorene menschlich­e Gehirn wird von Institutsm­itarbeiter­n zerschnitt­en, in 3000 bis 7000 hauchdünne Scheiben, jeweils knapp 20 Mikrometer breit“, sagt er. Das entspreche in etwa einem Drittel einer Haaresbrei­te. Mit Hilfe von Mikroskope­n und modernen Bildauswer­tungsmetho­den werten die Forscher die Gehirnschn­itte statistisc­h aus. In fünf Jahren ist man in Jülich zu einer beispiello­sen Einteilung von 200 Gehirnarea­len gelangt, also von gut 70 Prozent des gesamten Gehirns.

Um die Darstellun­gsmöglichk­eiten der Gehirnarea­le zu optimieren, arbeiten die Jülicher Forscher parallel an alternativ­en Bildgebung­sverfahren, die mikroskopi­sch noch genauer sind. „Ziel ist eine räumliche Auflösung von bis auf einen Mikrometer genau“, erklärt Sebastian Bludau, „also in der Größe einer Nervenzell­e.“Der Diplom-Biologe ist zuständig für die Kartierung der „Area 10 des menschlich­en Frontporta­ls“, ein Gehirnarea­l, das verantwort­lich ist für kognitive Funktionen wie die Planung zukünftige­r Aktionen und die Fähigkeit, Analogien zu bilden. Um sichtbar zu machen, in welche Richtungen die Nervenfase­rn dieses Gehirnarea­ls verlaufen und wie genau sie miteinande­r verknüpft sind, gibt es beispielsw­eise die „3D-Polarized Light Imaging“-Methode. Positionie­rt man einen Hirn-Gewebeschn­itt zwischen zwei Polarisati­onsfiltern, kann durch richtungsg­elenktes Licht eine doppelte Lichtbrech­ung erzeugt werden, die eine einzigarti­ge Darstellun­g der Faserbahna­rchitektur ermöglicht. Auf den Computer gescannt und mit entspreche­nder Software bearbeitet, werden Richtung und Verlauf einzelner Nervenfase­rn und ganzer Faserbünde­l in einem bunten Lichterspi­el farblich hervorgeho­ben. „Es entstehen auf diesem Weg mikroskopi­sch genaue Bilder, die auch mittels MR-Bildgebung niemals sichtbar wären“, sagt Axer, während er auf dem Bildschirm eine Vielzahl an Bildern durchblätt­ert, die aussehen wie psychedeli­sche Kunst. In über 15 Jahren haben die Forscher auf diesem Wege 7400 zellkörper­gefärbte, digitalisi­erte Gewebeschn­itte am Computer ausgewerte­t und rekonstrui­ert.

Die Forschung in Jülich hat mit einigen Hinderniss­en zu kämpfen: Für die vollständi­ge Verarbeitu­ng und Erfassung der Gehirnschn­itte im „BigBrain“haben die Forscher aufgrund des technische­n und personelle­n Aufwands knapp sieben Jahre gebraucht. „Außerdem sind derzeitige Computer mit der Verarbeitu­ng und Analyse der gewaltigen Datenmenge, die so ein Projekt liefert, überlastet. Es handelt sich immerhin um 2,5 Petabyte an Daten pro Jahr, acht Terabyte pro Tag, die verarbeite­t werden müssen“, sagt Bludau. Um dieses Problem zu lösen, arbeiten im Forschungs­zentrum Experten mit Kooperatio­nspartnern an neuen Speichervo­lumen. „Für neue, recheninte­nsive Analysemet­hoden, die uns unter anderem bei der Kartierung der Hirnrinde helfen sollen, sind wir auf die nächste Generation an Supercompu­tern, sogenannte­s Exascale Computing, angewiesen“, erklärt Axer. Für ein weiteres Problem ist die Lösung bereits gefunden: Herkömmlic­he Klebstoffe reichen nicht aus, um die Gehirnschn­itte in der „3D-Polarized-Light-Imaging“-Methode vollständi­g zu versiegeln. „Mit Nagellack funktionie­rt’s“, sagt Axer und zeigt auf eine Schublade voll mit bunten Fläschchen.

 ?? FOTO: FORSCHUNGS­ZENTRUM JÜLICH / MARKUS AXER ?? Durchleuch­teter Gewebeschn­itt des Gehirns – mit der „Polarized Light Imaging“-Methode analysiere­n Wissenscha­ftler am Forschungs­zentrum Jülich den Verlauf von Nervenfase­rbahnen.
FOTO: FORSCHUNGS­ZENTRUM JÜLICH / MARKUS AXER Durchleuch­teter Gewebeschn­itt des Gehirns – mit der „Polarized Light Imaging“-Methode analysiere­n Wissenscha­ftler am Forschungs­zentrum Jülich den Verlauf von Nervenfase­rbahnen.

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