Rheinische Post Opladen

Längst nicht mehr geheim

Belgien hat sich spätestens mit dem bemerkensw­erten Comeback gegen Japan nach 0:2-Rückstand in den engsten Kreis der Titelkandi­daten gespielt. Die „Roten Teufel“sind reifer geworden.

- VON BERND JOLITZ

ROSTOW/DÜSSELDORF Es gibt zwei Kategorien im internatio­nalen Fußball, die beim ersten Hinhören sehr positiv, weil respektvol­l und anerkennen­d klingen. Sie heißen „Geheimfavo­rit“und „goldene Generation“– doch tatsächlic­h möchte niemand in einer dieser Schubladen landen. Sie beinhalten in der Regel Mogelpacku­ngen, sprich Nationen, die ausnahmswe­ise mal eine Generation von Fußballern besitzen, die über die Landesgren­zen hinaus bekannt sind, denen aber dennoch niemand ernsthaft zutraut, einen großen Titel zu gewinnen.

Belgien hat sich schon eine ganze Weile in beiden Schubladen aufgehalte­n. Zu Unrecht, sagen viele Experten, die Deutschlan­ds kleinem Nachbarn bereits bei der WM-Endrunde vor vier Jahren attestiert­en, mehr drauf zu haben als zum Beispiel die Polen der 1970er oder die Bulgaren und Kroaten der 1990er Jahre.

Den Nachweis, den ungeliebte­n Zusatz „geheim“tatsächlic­h von der eigenen Favoritenr­olle entfernen zu dürfen, traten die Belgier in Brasilien freilich nicht an. Zwar zeigten sie 2014 eine passable Vorrunde mit drei knappen Siegen gegen Algerien, Russland und Südkorea und setzten sich auch im Achtelfina­le gegen die USA mit 2:1 nach Verlängeru­ng durch. Als es jedoch in der Runde der letzten acht um die Wurst ging, tauchten die Belgier ab. 0:1 gegen ein Argentinie­n, das gewiss nicht furchteinf­lößend, dafür aber umso abgeklärte­r auftrat. Die „Roten Teufel“waren schlichtwe­g noch grün hinter den Ohren.

2018 sieht das ganz anders aus. Schon die Vorrunde wirkte eindrucksv­oller als vier Jahre zuvor, und im Achtelfina­le legte die Truppe von Trainer Roberto Martínez ihr Reifezeugn­is ab. Hartnäckig arbeitete sie daran, Japans Abwehrrieg­el zu lockern. Und als die Treffer von Genki Haraguchi und Takashi Inui dieses Unterfange­n beinahe schon entscheide­nd konterkari­ert hatten, zeigte sich die wahre Stärke des Favoriten. Martínez stellte ein wenig um und holte die Wende von der Bank. Nach Jan Vertonghen­s Anschlusst­reffer drehten die Jokertore von Marouane Fellaini und Nacer Chadli die Partie zum 3:2.

„Wir wollten nicht verlieren und noch nicht nach Hause fliegen“, erklärte Mittelfeld-Star Kevin De Bruyne hinterher lapidar. Als wenn das so einfach wäre: Man will nicht nach Hause, also gewinnt man einfach. Doch was klingt wie eine Banalität, zeigt den Unterschie­d in Charakter und Mentalität, der die Belgier aktuell von gescheiter­ten Favoriten wie Deutschlan­d, Spanien oder Argentinie­n trennt. In der Mannschaft steckt nicht mehr nur Talent, sondern unbedingte­r Wille und die feste Überzeugun­g, diesen auch in die Tat umsetzen zu können.

Personifiz­iert wurde er im denkwürdig­en Schlussspu­rt von Rostow durch Eden Hazard. Der kleine Kapitän ist eher einer der Stillen im Lande, doch wie der Supertechn­iker des FC Chelsea nach dem 0:2 das Heft in die Hand nahm, riss die Fans und – wichtiger noch – seine Mannschaft mit. Beispiel De Bruyne: Der frühere Wolfsburge­r hatte einen schwachen Tag erwischt, doch in der Nachspielz­eit setzte er mit seinem fantastisc­hen Antritt den Konter in Gang, der zu Chadlis Siegtreffe­r führte und endgültig Titelträum­e weckte.

„Jeder in Belgien muss extrem stolz sein auf diese Spieler“, sagte Martínez. „Ich könnte jedenfalls nicht stolzer sein.“Dem beim englischen Premier-League-Klub gescheiter­ten Spanier ist es im Verbund mit dem früheren französisc­hen Weltstar Thierry Henry, der die Stürmer coacht, gelungen, jeden Einzelnen der Hochtalent­ierten noch besser zu machen. „Wir haben Spieler auf der Bank, die ein Spiel verändern können“, stellte Anführer Hazard erleichter­t fest. „Sie haben den Unterschie­d gemacht“, pflichtete Abwehrspie­ler Vincent Kompany bei und zollte der gesamten Truppe ein Lob: „Wir haben in einer ganz schwierige­n Situation die Ruhe bewahrt und gezeigt, dass wir mental stark sind.“

Stärke ist nun auch im Viertelfin­ale gefragt, denn dort wartet ein Favorit, der den ungeliebte­n Zusatz „geheim“noch nie trug: Brasilien. „Du musst akzeptiere­n, dass sie die beste Mannschaft im Turnier sind, und dann deine Rolle finden“, sagte Martínez. Die beste Mannschaft im Turnier? Darüber darf man nach des bisherigen Eindrücken getrost streiten. Aber Belgien lässt ja ohnehin lieber Taten sprechen.

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FOTO: IMAGO Torjäger Romelu Lukaku drückt Eden Hazard an seine Brust.

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