Der Sprengmeister Europas
Der umstrittene ungarische Regierungschef Viktor Orbán besucht Berlin: Porträt eines altvertrauten Unbekannten.
BUDAPEST Wenn er wollte, könnte Viktor Orbán. Er könnte mit seiner Fidesz-Partei die konservative EVP-Fraktion im EU-Parlament verlassen, eine Rechtsaußen-Formation „Gegen Migration“gründen und bei der Europawahl 2019 abräumen. So hat er es selbst gesagt. Er könnte die Lunte an die EU legen. So formulieren es jene politischen Beobachter, die den ungarischen Ministerpräsidenten gern als „gefährlichsten Mann Europas“beschreiben.
Orbán könnte also, aber er will nicht. Er wolle nicht desertieren, sagt er. Er wolle die EVP und Europa lieber auf den Pfad der christlich-konservativen Tugenden zurückführen. Am Donnerstag ist er bei seiner EVP-Parteifreundin Angela Merkel zu Gast. Er wird mit der Bundeskanzlerin natürlich über Migration sprechen, aber auch über die Zukunft der EU.
Desertieren – dieses Wort sollte sich merken, wer die Frage beantworten will, wie Viktor Orbán tickt, dieser altvertraute, aber mit 55 Jahren noch immer recht junge Regierungschef eines kleinen osteuropäischen Landes, der zum Sprengmeister der EU werden könnte. Man glaubt ihn in- und auswendig zu kennen, zumal da seine Taten sind, an denen man ihn erkennen können müsste: Orbán eroberte die Macht in Budapest 2010 mit der Parole von der „nationalen Revolution“und verteidigte sie 2014 mit dem Schlagwort der „illiberalen Demokratie“. Er höhlte die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz aus. Bei der Wahl 2018 triumphierte er mit einem radikalen Anti-Migrationskurs, antisemitischen Reden und der Losung: „Man will uns unser Land stehlen.“
All das ist bekannt, und all das machte Orbán bei Rechtsnationalen in Europa zu einem Heilsbringer, bei Linken und Liberalen zu einer Hassfigur. Weniger bekannt ist, dass derselbe Viktor Orbán vor 1989 als dezidiert liberaler, antikommunistischer Freiheitskämpfer in die Politik ging – zu einer Zeit, als er für eben jene Soros-Stiftung arbeitete, gegen die er heute so kompromisslos zu Felde zieht. Man könnte sagen: Irgendwann nach Ende des Kalten Krieges desertierte der Freiheitskämpfer Orbán und lief zum Feind über. Aber warum? Schließlich hatte er am 13. Juni 1989 im Alter von 26 Jahren auf dem Heldenplatz in Budapest eine flammende Rede gehalten, die ihn auf einen Schlag zum Hoffnungsträger des neuen Ungarn machte. Orbán, damals noch mit schulterlangen Haaren, forderte, mit der „bedingungslosen Unterordnung unter das russische Reich und der Diktatur einer Partei zu brechen“.
Wenn man die Revolution in Ungarn auf einen Moment des finalen Tabubruchs radikal verkürzen müsste, dann war es wohl dieser Satz des jungen Orbán, der die friedliche Machtübergabe einleitete. Doch er wurde nicht so bald belohnt, und auch das Land fand sich zunächst in einer Krise wieder. Es ging nach 1989 wirtschaftlich bergab, so wie in allen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Zugleich mussten die Sieger der Revolution mit ansehen, wie sich alte Kader an den Schalthebeln der Macht hielten und schamlos bereicherten. Doch es kam noch schlimmer: Der Niedergang führte zu einem Wiederaufstieg gewendeter Kommunisten. 1994 eroberten die Postsozialisten die absolute Mehrheit, und genau dies war das Jahr, in dem Orbán von der Fahne ging und den liberalen Fidesz mit nach rechts zog. Orbán setzte ab sofort auf die „nationale Frage“, die in Ungarn seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg stets besonders virulent war. Das Land hatte zwei Drittel seines Staatsgebietes verloren.
Und siehe da: 1998 stieg der Fidesz zur stärksten Partei einer bürgerlich-wirtschaftsliberalen Koalition auf, mit dem 35-jährigen Orbán als Regierungschef. Ungarn galt als Musterstaat des Ostens, trat der Nato bei und strebte den EU-Beitritt an. Doch wieder blieb der Lohn aus. Westliche Investoren, die Orbán ins Land geholt hatte, verschärften die Privatisierungsfolgen durch weiteren Sozialabbau. Die Unzufriedenheit der Menschen wuchs. Bei den Wahlen 2002 und 2006 siegten erneut die Sozialisten. Orbán setzte nun erst recht auf die nationale Karte.
Es ist diese Geschichte des postsozialistischen Versagens, an deren Ende die Macht Viktor Orbán 2010 quasi in den Schoß fiel. Der Fidesz eroberte eine Zweidrittelmehrheit, seither steuert Orbán unangefochten jenen rechtsnationalen Kurs, der ihn berühmt und berüchtigt gemacht hat. Seine Wandlung vom Freiheitskämpfer zum selbsternannten Nationalrevolutionär ist, so könnte man sagen, geradezu idealtypisch für die Entwicklung im gesamten ehemaligen Ostblock.