Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Er wusste die Geldscheine der Donregierung, der lettischen und grusinischen Republik von den Sowjet- und Kerenskirubeln zu unterscheiden. Er trug eine russische Hemdbluse. Er wusste, wo man sich anzustellen hatte, um Lebensmittel zu erhalten, und wann sie ausgegeben wurden, und er verstand es, mit den Frontsoldaten in ihrer Sprache zu sprechen und auch die Schweigsamsten unter ihnen zum Reden zu bringen.
In der Sache Seljukow aber kam er nicht vorwärts. Die Berichte, die er erhielt, ließen sich miteinander nicht in Einklang bringen. Hatte es gestern geheißen, dass das Semjenowsche Regiment sich bei der Einnahme von Orsk mit Ruhm bedeckt habe, so musste Vittorin heute erfahren, dass es schon vor Monaten wegen gegenrevolutionärer Gesinnung aufgelöst worden sei. An einem und demselben Tage tauchte es siegreich vordringend an der sibirischen und völlig kampfunfähig, vom Skorbut dezimiert, an der Nordfront auf. Seljukow selbst war in Charkow zum Divisionskommandanten ernannt worden, in Kupjansk als Artillerieaufklärer gefallen, bei Jurjew mit der Regimentskasse zum Gegner übergelaufen, und dies alles innerhalb einer einzigen Woche. Nur darin waren sich die Soldaten, die Vittorin befragte, einig, dass sie dem Stabskapitän Seljukow an der Front begegnet waren. Sie vermochten ihn mühelos in der Beschreibung, die Vittorin von ihm gab, zu erkennen.
Trotz dieser Misserfolge gab er seine Nachforschungen nicht auf. Er sah keinen anderen Weg, der zum Ziele führte. Immer wieder sprach er in der Nähe der Bahnhöfe Soldaten an, die für eine Nacht Quartier suchten. Er lud sie ein, bei ihm zu übernachten, bewirtete sie mit Tee und mit Zigaretten und kaufte ihnen Feuerzeuge ab, die aus Patronen gearbeitet waren. Wenn sie dann nach stundenlangen Gesprächen und kurzem Schlaf ihres Weges gingen, hinterließen sie in der Wohnung des Barons einen Geruch von Machorka, von nassen Schafpelzen, von Lederjacken, Pferdemist, Anisöl, Zwiebeln, Kohlsuppe und von regenfeuchtem Gras.
Dieses Leben führte Vittorin, bis er eines Abends an einen Mann geriet, der von einer anderen Kampffront kam.
Als Vittorin in der Nähe des Frachtenbahnhofs auf ihn zutrat, war der Mann gerade dabei, die Reste seiner Mahlzeit, die er im Stehen verzehrt hatte, ein Stück schwarzen Brotes und eine Salzgurke, in seinen Rucksack zu verpacken. Von den anderen Frontsoldaten unterschied er sich nur dadurch, dass er eine Brille trug. Der Knopf seiner alten Artilleriemütze war mit roter Tinte gefärbt. Der Brille wegen hielt ihn Vittorin für einen Schreiber in irgendeiner Bataillonskanzlei, der von der einen Front zur anderen reiste.
Es erwies sich, dass der Mann kein Quartier hatte. Auf dem Weg zum Taganskyplatz gab er auf Vittorins Fragen nur einsilbige Antworten, er schien von einer langen Bahnfahrt ermüdet zu sein. Im Vorzimmer der Wohnung legte er seinen zerrissenen grauen Mantel ab, – dies fiel Vittorin auf als ein Zeichen unproletarischer Lebensgewohnheiten, das er an keinem seiner früheren Besucher beobachtet hatte.
Sie traten in das Arbeitszimmer des Barons, nun änderte der Mann auf eine eigentümliche und überraschende Art sein Benehmen. Von Scheu und von Müdigkeit war nichts mehr an ihm zu bemerken. Er sah sich, während Vittorin das Teewasser wärmte, im Zimmer um, besonders dem Schreibtisch und dem Bücherschrank schien sein Interesse zu gelten. Dann ging er, als wäre er hier nicht Gast, sondern Herr im Hause, durch den Ankleideraum in das Schlafzimmer, wobei er leise vor sich hinpfiff . . . Nachdem er die ganze Wohnung in Augenschein genommen hatte, trat er an das Fenster und warf einen prüfenden Blick hinunter auf die Gasse.
„Wie spät ist es, Genosse?“fragte er, ohne Vittorin anzusehen. „Es ist sieben Uhr.“
„Sieben Uhr“, murmelte der Mann am Fenster. „Diese räudigen Teufel! Sie sind die gleichen geblieben. Das alte Russland ist verschwunden, hinweggespült vom Strom der Zeit, diese Popensöhne aber sind noch da, haben sich nicht geändert. Nur dass sie heute im Namen der Sowjets hinter mir her sind, während sie damals, als ich auf den Barrikaden stand, noch ,Gott schütze den Zaren’ sangen. Feig sind sie, fürchten sich sogar vor einer Gans.“
„Wer fürchtet sich?“fragte Vittorin, der, mit dem Samowar beschäftigt, nur die letzten Worte gehört hatte.
„Feig und dumm. Dumm sind sie auch. Wie die Stiefelsohlen.“
„Von wem sprechen Sie, Genosse?“
„Von den Tschekapolizisten, von wem denn sonst? Jetzt eben, um diese Stunde, durchsuchen diese Kürbisfresser die Wohnung, in der ich mich bis heute morgen aufgehalten habe.“
„Sie haben eine Wohnung?“rief Vittorin. „Sie kommen also nicht von der Front?“
Der Fremde wendete sich langsam Vittorin zu.
„Warum verstellen Sie sich, Genosse? Sollten Sie es nicht bemerkt haben, dass ich Sie seit sieben Tagen beobachte? Wenn Sie es aber nicht bemerkt haben, was sind Sie dann für ein Illegaler?“
Vittorin tastete nach seinem Revolver, fand ihn aber nicht in seiner Tasche.
„Bleiben Sie, wo Sie sind“, stieß er hervor. „Kommen Sie mir nicht zu nahe. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.“
„Lassen Sie den Genossen Mauser ruhig in Ihrer Tasche“, sagte der Fremde. „Ich will wissen, welcher Organisation Sie angehören, wer Sie auf diesen Posten gestellt hat, sonst nichts. Sie arbeiten gut, Sie suchen Verbindung mit der Armee herzustellen. Sie arbeiten nach einem konkreten Plan, das ist schon sicher. In den letzten Tagen haben Sie hier in diesem Zimmer Besprechungen mit Angehörigen von sieben Regimentern abgehalten.“
„Nun gut, so waren es also sieben Regimenter. Was kümmert Sie das?“rief Vittorin verstört. Der Fremde zuckte die Achseln. „Vielleicht hat Artemjew recht, wenn er Sie für ein Mitglied einer rechtsgerichteten Offiziersorganisation hält“, meinte er. „Es gibt hier irgendeinen ,Bund der Wiedergeburt’, aber es ist uns nicht gelungen, mit ihm in Fühlung zu kommen.“
Nun, da er einen Namen hörte, den er kannte, fand Vittorin sich endlich in der Situation zurecht.
(Fortsetzung folgt)