Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Zorn stieg in ihm auf, wütender Schmerz um die verlorene Geliebte und ein brennendes Verlangen, sich diesen Menschen herausrufen zu lassen und ihn mit der Faust in sein glattes Weibergesicht zu schlagen. Doch der Gedanke an Seljukow war stärker als dies alles. In einer Stunde ging die ,Aurora’, wenn er sich beeilte, kam er zurecht. Er steckte den Pass mit dem Geld und dem Zettel zu sich. Dann nahm er Abschied von Lucette.
„Grüßen Sie sie“, sagte er zu Ethel. „Ich hab’s nicht getan. Aber es ist gleich.“
Er ging und fühlte, dass er es dennoch getan hatte, – jetzt erst hatte er es getan, da er die hundert Franken genommen hatte. Aber es war ihm gleich. Es gab Dinge, die wichtiger waren als dieser Herr Pancrace.
Eine Stunde später stand er an Bord der ,Aurora’, die langsam aus dem Hafen lief. Staunend sah er das Bild der Stadt, in der er gelebt hatte. Er sah die Terrassengärten und die Minaretts und die grünen Kuppeln der Moscheen, er sah die Paläste aus weißem Marmor und die Zypressen der alten Friedhofsgärten und die Stadtmauer mit ihren Toren, – er sah dies alles in dem Augenblick, da es ihm entschwand, zum ersten Mal.
Von Rom führte Seljukows Spur nach Mailand, und hier ging sie verloren. In einem kleinen Logierhaus in der Via Cappelari hatte sich der Stabskapitän mit seinem Diener Grischa vier Tage lang aufgehalten. Wohin die beiden dann gereist waren, das konnte Vittorin nicht in Erfahrung bringen.
Da er kein Geld mehr besaß, war er genötigt, seine Nachforschungen einzustellen und sich nach einer Arbeit umzusehen. Der Hurrikan des Lebens riss ihn mit sich fort und warf ihn aus einer Stadt in die andere. Im Hafen von Genua arbeitete Vittorin als Kohlentrimmer. In Barcelona war er Adressenschreiber, in Narbonne Gehilfe eines Anstreichers. Die Zeit verlief. Er hatte mancherlei gelernt: dass man, wenn es keine Arbeit gibt, auch von Käserinden und Obstabfällen leben kann; dass die Bahn nicht nur für Leute da ist, die eine Fahrkarte besitzen; dass man in gewissen Vorstadtschänken für Zigarettenstummel, die man tagsüber auf den Boulevards gesammelt hat, ein Stück Brot und ein Glas Wein eintauschen kann, – manchmal, wenn die Ausbeute gut gewesen ist, erhält man sogar ein Stückchen Salzfleisch, aber solche Tage sind selten.
In Toulon wurde ihm sein Rucksack gestohlen, in Marseille saß er vierzehn Tage lang in Polizeihaft. Er kannte die Brotsuppe der Asyle und den Geruch der Schwefeldämpfe, mit denen die Kleider der Obdachlosen desinfiziert wurden. Unendlich fern war Seljukow, vielleicht in Algier, vielleicht in Genf, vielleicht in Buenos Aires.
Dann kam ein Tag, an dem sich Vittorins Schicksal wendete, ein Tag, der ihm die Freiheit wiedergab, die er im täglichen Kampf um das Stück Brot verloren hatte.
Ein Auto, das den Boulevard de la Corderie überquerte, stieß ihn nieder. Der Führer des Wagens, ein Amerikaner, brachte ihn ins Spital und hinterlegte für ihn die Heilungskosten und ein Schmerzensgeld. Vittorin hatte einen Rippenbruch und Rissquetschwunden an beiden Armen erlitten. Als er vier Wochen später das Spital verließ, wurden ihm sechshundert Franken ausgefolgt.
Noch am gleichen Tag fuhr er nach Paris.
Wo immer auch sich Seljukow befand, – es gab ein Mittel, seinen Aufenthaltsort festzustellen. In Paris – das hatte Vittorin von einem Spitalgenossen erfahren – erschienen die Emigrantenblätter der verschiedenen politischen Richtungen, die Blätter der Ultrakonservativen, der liberalen Monarchisten und der Kadettenpartei, – Blätter, die den Gedanken einer gewaltsamen Intervention in Russland verfochten, und andere, die für Versöhnung mit den Sowjets eintraten, Blätter der Menschewiki, Blätter der S.-R.-Partei, – sogar eine kleine Gruppe russischer Anarchisten, die sich ,Parteilose’ nannten, hatte ihr täglich erscheinendes Organ. Und es gab keinen russischen Flüchtling, der nicht dadurch, dass er eines dieser Blätter hielt, den Zusammenhang mit der Heimat und mit den in aller Welt versprengten Freunden sich zu erhalten suchte.
An einem trüben Wintermorgen erschien Vittorin in der Redaktion der von Miljukow herausgegebenen ,Poslednije Nvosti’. Es war der elfte Versuch dieser Art, den er unternahm. Diesmal hatte er Erfolg. Der Name Michael Michajlowitsch Seljukow fand sich in der Abonnentenliste. Das Blatt wurde dem Stabskapitän seit acht Monaten an die gleiche Adresse geschickt. Diese Adresse lautete: Wien, Währinger Gürtel 124, II. Stock, Tür 16.
Währinger Gürtel 124. Daheimbleiben und warten und dann eines Tages eine Straße hinaufgehen und um die Ecke biegen. Mehr wäre nicht zu tun gewesen.
Der Zeitungsbeamte blickte verwundert von seinen Listen auf, als er Vittorins kurzes, heiseres Lachen hörte.
„Verzeihen Sie“, sagte Vittorin mit zusammengepressten Zähnen. „Aber es ist wirklich zum Lachen. Flecktyphus, Läuse, Hunger, Krieg, Gefängnis. Durch Russland, durch halb Europa, durch alle Höllen der Zeit. Auf verfaultem Stroh hab’ ich geschlafen, in Moskau wollten sie mich verhaften, meine Kameraden wurden füsiliert in der verfluchten Zuckerfabrik, – Marseille! Konstantinopel! Mit Verbrechern aller Erdteile hab’ ich mich herumgeschlagen, und ich hätte eigentlich – das seh’ ich jetzt erst – Es ist zum Lachen!“
Er schwieg und starrte mit stumpfem Blick in die flackernde Gasflamme. „Ich verstehe nicht“, sagte der Beamte. „Wenn Sie sich beschweren wollen, das ist nicht der Ort, Sie müssen sich an die Gesandtschaft Ihres Landes wenden. Wir hier können gar nichts tun. – Wünschen Sie noch etwas?“
Fräulein Fifi ist im Theater gewesen. Das dritte Mal in dieser Woche, vorgestern im Châtelet, Dienstag bei der Revue in der Olympia, heute im Trianon. Nach dem zweiten Akt ist man fortgegangen, im Foyer hat es zwischen Mario und seinen Freunden eine kleine Debatte gegeben, diese Italiener streiten immer gleich, und dabei hat es sich doch nur darum gehandelt, wo man soupieren solle, ob im „Fantasio“oder im „Chez moi“. Schließlich hat man sich auf „Adrienne“geeinigt, wegen der berühmten Spezialität des Hauses, dem coq en pâte. Mario kennt alle Lokale. Jetzt sitzt man in der Hotelbar, und es ist langweilig. Mario und seine Freunde sprechen von Geschäften, von Börsenpapieren – Creusot, Hotchkiß, Gaz Torino, Randfontein.
(Fortsetzung folgt)