Erdogans Widersacherin
Sie war monatelang ohne Anklage in der Türkei inhaftiert, nun erhebt Mesale Tolu anlässlich des Erdogan-Besuchs in Deutschland unerschrocken ihre Stimme.
DÜSSELDORF Mesale Tolu sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl. Schon ihre Haltung ist ein Signal an den türkischen Staatspräsidenten Recep TayyipErdogan.Eslautet:„Ihrkriegt mich nicht klein.“Die junge Frau mit dem schmalen, ernsten Gesicht spricht leise, aber sehr deutlich: „Sie werden fragen, wie ich mich fühle. Ich kann es Ihnen sagen: Der Verantwortliche für all die Repressalien wird hier mit rotem Teppich und Staatsbankett empfangen.“Das sei ein sehr unangenehmes Gefühl für alle Betroffenen.
Bis vor Kurzem war Tolu noch eine politische Gefangene Erdogans. Acht Monate saß die Journalistin und Übersetzerin in der Türkei in Haft. In einem Istanbuler Frauengefängnis, mit 24 Mithäftlingen und ihrem damals zweijährigen Sohn. Der Fall hatte die deutsch-türkischen Beziehungen schwer belastet. Über die Inhaftierung der deutschen Staatsangehörigen aus Ulm war die Bundesregierung völkerrechtswidrig zunächst nicht einmal unterrichtet worden.
Morgens um halb fünf waren sie am 30. April 2017 in ihre Wohnung eingedrungen, die Polizisten des türkischen Sondereinsatzkommandos. Vor den Augen ihres kleinen Sohnes, den Tolu damals zunächst bei ihr unbekannten Nachbarn abgeben musste, wie eine Kollegin damals berichtete. Der Vorwurf gegen sie lautete: Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird.
„Ich habe für eine sozialistische Nachrichtenagentur gearbeitet und auch Interviews mit Abgeordneten aus Deutschland geführt“, sagt die 34-Jährige rückblickend. Bei dem letzten Interview vor ihrer Verhaftung habe es sich um ein Gespräch mit einer EU-Parlamentarierin der Partei Die Linke gehandelt.
In der ersten Zeit im Gefängnis durfte sie nach Angaben ihrer Familie niemand besuchen. Bis deutsche Diplomaten erstmals Zugang erhielten, dauerte es zwei Monate. Nach einer 90-minütigen Unterhaltung gaben sie zu Protokoll, es gehe ihr „den Umständen entsprechend gut“.
Tolus Großeltern waren nach Deutschland ausgewandert. Ihr Vater, ein Automechaniker, war ihnen später gefolgt. Weil Tolus Mutter bei einem Verkehrsunfall während einer Urlaubsreise in die Türkei 1990 ums Leben kam, wurde sie von ihrer Großmutter betreut.
Der jungen Frau drohten laut Anklage in der Türkei 15 Jahre Haft. Im Gerichtsprozess erhob sie die Stimme, wies die Terrorvorwürfe gegen sie zurück und beschwerte sich über
die Haftbedingungen: Fünf Monate sei sie ohne Urteil in Untersuchungshaft festgehalten worden. Mehr noch: Sie kritisierte die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei.
Zwei Monate später kam Tolu zwar frei. Ausreisen durfte sie aber noch immer nicht. Dazu bedurfte es offenbar weiterer diplomatischer Anstrengungen. Erst am 20. August dieses Jahres war es soweit. In einer Pressekonferenz sagte sie gleich nach ihrer Rückkehr: Freuen könne sie sich über ihre Entlassung nicht, weil in der Türkei Hunderte Journalisten, Oppositionelle, Anwälte und Studenten noch immer in Haft seien.
Rund 130 Fälle von Journalisten gebe es zurzeit, die auf Grundlage der türkischen Anti-Terror-Gesetze angeklagt seien, bekräftigt sie heute – auch um deutlich zu machen, welch eine große Zumutung der Erdogan-Besuch aus ihrer Sicht ist. Sie meint, ein kurzer Arbeitsbesuch wäre angebrachter gewesen.
Unter jenen, die noch in der Türkei inhaftiert sind, ist auch ihr Ehemann – als türkischer Staatsangehöriger ist er in einer schwierigen Situation. Er wartet noch darauf, dass ihm wegen Terrorvorwürfen der Prozess gemacht wird. Am 16. Oktober soll es soweit sein. „Ich habe die Absicht, teilzunehmen“, sagt sie. Doch abschließend will sie das erst kurz zuvor entscheiden. Und dabei auf den Rat der Anwälte hören.
Nicht einmal der bevorstehende Prozess hindert Tolu daran, die Missstände weiter anzuprangern. Sie sehe in der Türkei keinerlei Entwicklung in Richtung demokratischer Schritte, betont sie. Immer noch seien mehr als 10.000 politische Gefangene zu unrecht inhaftiert. In jüngster Zeit seien die stillen Proteste der „Samstagsmütter“wegen ihrer verschwundenen Kinder verboten und Flughafen-Mitarbeiter festgenommen worden, nur weil sie für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt hätten.
Trotzdem werde Erdogan hier empfangen wie ein Präsident. „Keiner spricht über die Opposition, die Unterstützung wirklich braucht“, kritisiert Mesale Tolu. Und sie wiederholt ihre Meinung: „Ein Arbeitsbesuch wäre deutlich angemessener als ein Besuch mit einem Staatsbankett, wo man über Menschenrechtsverletzungen gar nicht sprechen kann.“