Ein neuer bürgerlicher Kompromiss
Globalisierungsskeptiker empfinden eine doppelte Ohnmacht. Zum einen haben sie das Gefühl, dass sozialer Wandel sie und ihre gewohnte Umgebung bedroht. Das ist für sie besonders schmerzhaft, da ihnen diese gewohnte Umgebung starken emotionalen Halt gibt. Zum zweiten scheinen ihnen der Staat und seine Repräsentanten als unwillig oder unfähig, diesem Wandel etwas entgegenzusetzen.
Daraus ergibt sich ein Dilemma: Entweder verliert man einen wachsenden Teil der globalisierungskritischen 45 Prozent an die AfD oder man hält sie im eigenen Lager durch eine Politik, die dem nationalen Interesse diametral widerspricht. Bestes Beispiel: Brexit.
Die Volksparteien stehen also vor dem Spagat, für die massiven internationalen Herausforderungen angemessene Antworten zu finden und diese zugleich so zu kommunizieren, dass sie globalisierungsskeptische und globalisierungsfreundliche Wählerschichten gleichermaßen ansprechen.
Damit die Volksparteien wieder das Vertrauen von globalisierungsskeptischen Wählerschichten gewinnen, müssen CDU/CSU und SPD Ideen vorlegen, die offen sind für sozialen Wandel (zum Beispiel Migration, globale Warenströme, Minderheitenschutz und internationale Verantwortung). Zugleich müssen sie aber eine Ansprache für globalisierungsskeptische Wähler finden, die unterstreicht, dass der Staat Schutzräume vor den negativen Seiten der Globalisierung anbietet.
Die Entfremdung vieler Wähler von den Volksparteien in der Flüchtlingsdebatte kommt daher, dass CDU/CSU und SPD keinen bürgerlichen Kompromiss vereinbart beziehungsweise ausreichend kommuniziert haben (Obergrenze), der die Sorgen konservativer Wähler hätte ausräumen können. Die Bundesregierungen unter Angela Merkel sind bis dato von der Maxime ausgegangen, dass eine rationale Sachlösung ( Türkei-Abkommen) ohne emotionalen Überbau die Wähler am ehesten überzeugt.
Wegen der massiven Kritik aus Teilen der CDU/CSU und dem Aufkommen der AfD kann diese Kommunikationsstrategie aber nicht mehr funktionieren. Denn nun ist die emotionale Identitätspolitik ein zentrales Wahlkampfthema geworden. Die lautesten Stimmen – die CSU und die AfD, aber auch Teile der CDU – entziehen sich weitestgehend dem Einflussbereich der Bundeskanzlerin. Sie hat massiv an Möglichkeiten eingebüßt, den nationalen Diskurs zu bestimmen.
Es gibt andere wirkmächtige Spieler – zum Beispiel Horst Seehofer (CSU), Jens Spahn (CDU), Alice Weidel (AfD) und vielleicht auch noch SPD-Politiker, die Innenpolitik zu ihrem Thema machen wollen – und ein neues Spiel: Darin geht es um Emotionen, nicht um Sachpolitik.
Wenn die deutsche Regierung nun versucht, auf Emotionen allein mit Vernunft zu reagieren, wird sie genauso scheitern wie David Camerons rationale Anti-Brexit-Kampagne gegen die Emotionen des Pro-Brexit-Lagers um Boris Johnson und Nigel Farage. Oder wie jeder, der schon einmal versucht hat, seinen Partner in einer emotionalen Debatte nur mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen. Stattdessen ist ein emotionaler Weg erfolgversprechender – ein neuer bürgerlicher Kompromiss.
Die vier Eckpfeiler: Die Zustimmung zu sozialem Wandel (zum Beispiel Zuwanderung oder die Euro-Einführung) ist auch in konservativen Wählerschichten mehrheitsfähig. Aber nur, wenn dieser Wandel so kommuniziert wird, dass er a) von wichtigen konservativen Politikern getragen wird, weil er b) im nationalen Interesse liegt, c) nationale Erfolgsgeschichten emotional fortschreibt und d) unter der Kontrolle staatlicher Organe bleibt.
Diese vier Punkte erlauben es globalisierungsskeptischen Wählern, große Umbrüche mitzutragen. Angela Merkels „Wir schaffen das“hätte den Beginn eines solchen gesellschaftsübergreifenden Kompromisses markieren können. Das Narrativ hätte lauten können: Wir alle arbeiten Hand in Hand an einem großen Projekt, das gleichermaßen im humanitären und nationalen Interesse liegt. Dafür hätte die Kanzlerin aber einen Plan vorlegen und kommunizieren müssen, der von der SPD bis zur CSU getragen worden wäre. Und im Anschluss hätte sie gerade konservativen Kräften in der Koalition deutlich mehr Spielraum und politische Siege erlauben müssen.
Wenn dies gelungen wäre, hätten wir ein erfolgreiches Change Management beobachtet. Derartige Erfolge und besonders deren öffentlichkeitswirksame Kommunikation beruhen auf der Bewahrung, der Einforderung sowie Durchsetzung gemeinsamer Normen (Gesetze und staatliche Autoritäten) und Werten (Sicherung subjektiver Lebensentwürfe und nationaler Identität).
Auf diese Weise können globalisierungsfreundliche und globalisierungsskeptische Wähler geeint werden. Für progressive Globalisierungsfreunde gibt es den Wandel und für konservative Globalisierungsskeptiker die Stabilität. Folglich können neue bürgerliche Kompromisse beide Wählergruppen gleichermaßen ansprechen: die Furcht vor persönlichem Identitäts- und Kontrollverlust sowie die Sorge vor dem Verlust der nationalen Identität und der staatlichen Steuerungsfähigkeit.
Die neue Gewinnerformel der Volksparteien: Zunächst müssen wir auf die Sorgen der Bürger in Identitätsfragen eingehen: Politik, die auf die Individualebene zielt – indem sie konservative Lebenswelten anerkennt und Rückzugsräume vor der Globalisierung schafft –, erhält die Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit des Einzelnen. Sie kommt dem Bürgerbild der Renaissance, das in dem aufgeklärten, handlungsfähigen und reflektierten Individuum sein Ideal fand, sehr nahe.
Um diese individuellen Rückzugsräume zu erhalten, ist die Kooperation aller Bürger nötig. Denn da wir alle sozial, ökonomisch und politisch voneinander abhängen, nützt es nichts, wenn nur die eine Hälfte der Bevölkerung einer Handlungsmaxime folgt, die andere aber das Gegenteil tut.
Es braucht somit einen Gesellschaftskonsens, der im alltäglichen Handeln sichtbar wird. Es braucht eine solidarische Bürgergesellschaft. Wenn Politiker gesellschaftliche Veränderungen als Fortschreibung nationaler Narrative darstellen und die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe ausbauen (zum Beispiel die Aufrüstung der Bundeswehr mithilfe neuer multikultureller Einheiten), signalisieren sie damit Stabilität im Wandel sowie dessen Steuerungsfähigkeit. Es schlägt die Stunde des starken Staates. Die neue Gewinnerformel der Volksparteien ist die Kombination aus beidem: der Schaffung einer solidarischen Bürgergesellschaft und einem starken Staat.
Die neue Gewinnerformel der Volksparteien besteht aus einer solidarischen Bürgergesellschaft und einem starken Staat