Pfaffs Hof
Wir fuhren mit dem Fahrrad zum Bus und mit dem Bus in die Stadt. Vom Bahnhof aus mussten wir dann zu Fuß gehen bis zu einem „Fachgeschäft für Miederwaren“. Dort gab es auch Badeanzüge.
In die Kinderanzüge passte ich nicht mehr. Sie kniffen zwischen den Beinen, weil ich so lang war.
Einen von den Frauenanzügen fand ich schön. Er war zitronengelb und hatte einen aufgesetzten dunkelblauen Gürtel.
Aber er hatte auch Körbchen aus hartem Plastik. Wo meine Brüste sein sollten. Wo aber keine waren. Nur kleine Huckel.
„Ich weiß nicht . . .“, sagte Mutter, als ich mich vor dem Spiegel hin und her drehte. In dem Anzug sah ich aus wie ein Filmstar!
„Da wächst sie schon noch rein.“Die Verkäuferin kicherte, und ich wurde rot.
Mutter hatte von Opa einen großen braunen Koffer ausgeliehen.
Opa fuhr jetzt nämlich mit seiner neuen Frau immer in Urlaub, nach Meran oder an die See.
„Urlaub!“Mutter konnte sich darüber nicht beruhigen. „Wir wussten damals nicht mal, wo wir was zu Essen herkriegen sollten!“
Aber der Koffer war ihr recht, in den packte sie meine Kleider. Vorher wurde alles noch einmal aufgebügelt.
Ich stand daneben und musste weinen. „Ich will nicht weg.“
Mutter guckte komisch. „Muss aber sein, Kind. Man kriegt im Leben nichts geschenkt.“
Ich merkte, dass Vater meine „Ferien in der Großstadt“nicht gut fand, aber er sagte nichts dazu.
Er sagte sowieso kaum noch was. Wenn wir gemeinsam schlafen gingen, lag er einfach nur neben mir und schwitzte.
Und dann brachte Onkel Maaßen uns nach Köln.
Mutter fuhr nicht mit.
Ich hatte furchtbar gequengelt, aber sie hatte sich nicht erweichen lassen.
„Du musst endlich selbständig werden!“
Wir saßen mal wieder hinten im Auto, Barbara und ich. Und sagten nichts.
Ich kämpfte die ganze Zeit gegen meine Tränen an – ich wollte zu meiner Mutti –, musste immer tief Luft holen und schlucken.
Onkel Maaßen merkte das bestimmt, aber er sagte auch nichts.
Ich schluckte ganz fest. „Papperlapapp“, murmelte ich.
„Was?“Barbara schaute mich an. „Papperlapapp!“
Da musste sie lachen und knuffte mich in die Seite.
Als wir nach Köln reinfuhren, fing Onkel Maaßen an zu schimpfen. Wegen dem vielen Verkehr.
Das Haus der Zwanzigers war endlich fertig.
Tante Liesel sah „fesch“aus, als sie uns die Tür aufmachte. Zur rosa Hemdbluse trug sie ein Tüchlein mit Punkten um den Hals.
Unsere Koffer ließ sie Barbara und mich allein die Treppe zum ersten Stock hochschleppen.
„Das schaffen die schon, Wim“, sagte sie und nahm Onkel Maaßen fest in die Arme.
„Komm, lass dir alles zeigen. Es gibt auch einen kleinen Imbiss.“
Onkel Maaßen winkte unwirsch ab. „Ich muss gleich wieder zurück, hab meine Zeit auch nicht gestohlen.“ Aber dann guckten wir uns doch alle zusammen „unsere bescheidenen Gemächer“an.
In der rechten Wohnung gab es eine Küche, so groß wie Pfaffs Wohnzimmer. Eine richtige Einbauküche mit Schränken bis unter die Decke und glänzenden Fliesen.
Ein Esszimmer mit einem langen Tisch, um den zwölf Stühle standen, die so ähnlich aussahen wie die von Dr. Siebers.
Der Tisch war gedeckt, weiße gestärkte Damastdecke, Porzellan mit blauem und goldenem Rand und goldenes Besteck.
Barbara warf mir einen Blick zu. So etwas hatte sie wohl auch noch nicht gesehen.
„Ich habe schon mal eingedeckt.“Liesel lachte atemlos. „Wir geben morgen Abend eine kleine Gesellschaft.“
Dann strich sie langsam über einen Tellerrand. „Kobaltblau“, sagte sie versonnen.
Eine Gesellschaft? Vielleicht hatte sie ja die Leute vom Fernsehen eingeladen!
„Nur den Blumenschmuck muss ich noch bestellen. Du als Künstler hast doch ein Auge dafür, Wim.“Luise nahm Onkel Maaßen wieder in den Arm. „Was hältst du von weißen Freesien?“
An den Fenstern hingen Wolkenstores, und auf den Fensterbänken standen rosa Wasserbegonien in Messingtöpfen.
Dann gab es in dieser Wohnung noch einen Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine, Schleuder und Kühltruhe.
Und das Gästezimmer mit Gästebad. Dort sollten Barbara und ich wohnen.
Das Zimmer hätte ich mir gern angeschaut, aber Liesel hatte schon ihren Schlüsselbund in der Hand und führte uns durchs Treppenhaus in die andere Wohnung hinüber.
Dort sah es fast genauso aus wie bei Vaters General, viel Gold im Flur, im Wohnzimmer gemischt mit Dunkelgrün. Dicke Perserteppiche mit Läufern kreuz und quer darüber.
Das Badezimmer war rosa, sogar die Wanne, das Waschbecken und die beiden Klos.
Die Wasserkräne waren aus Gold und sahen aus wie Fische.
Das einzige Zimmer, das mir ein bisschen gefiel, war Onkel Karl-Dieters Arbeitszimmer.
Ein Schreibtisch aus dunklem Holz und an drei Wänden Regale mit Büchern. Bücher mit Ledereinbänden. Solche hatte ich noch nie gesehen.
„Alles Erstausgaben . . .“
An der vierten Wand hingen zwischen den Fenstern alte Gewehre und knubbelige Pistolen.
„Die sind nicht echt, keine Angst, Mädels. Aber im Safe im Schlafzimmer haben wir auch eine echte Pistole, man weiß ja nie . . .“
Über den Gewehren hing ein gruseliges Menschengesicht mit geschlossenen Augen.
„Goethes Totenmaske“, erklärte Liesel, „eine Original-Replik.“
Dann legte sie die Hände gegeneinander, als wollte sie beten, wie es die katholischen Kinder taten, und drehte sich um sich selbst.
„Na, dann kommt! Wir nehmen unseren Imbiss heute in der Küche, ganz familiär. Wir sind ja unter uns.“
Es gab Nudelsalat, Apfelkuchen, Kaffee und Sinalco für Barbara und mich.
(Fortsetzung folgt)