Die Bummelbahn der Lemuren
In Madagaskar sind Zugreisen selbst in der ersten Klasse mitunter beschwerlich. Doch gerade das macht sie für Eisenbahnfans interessant. Die 170-Kilometer-Strecke kann acht Stunden dauern – oder 20.
Um 10 Uhr morgens brennt die Sonne bereits. Eine rote Diesellok rollt aus dem Schuppen in Moramanga. Der Lokführer hat die Maschine inspiziert, nickt zufrieden – noch. Dutzende Insulaner laufen über die Gleise, wuchten Säcke, Kisten und Körbe in die braunen Güterwaggons. Der weiß-blaue Wagen der ersten Klasse trägt die Aufschrift „Le Trans Lémurie Express“, denn die Reise führt zu den Lemuren, den seltenen Feuchtnasenaffen, die nur auf Madagaskar beheimatet sind.
Noch lässt sich der flächenmäßig zweitgrößte Inselstaat der Welt auf der Schiene erkunden. Aber es wird schwieriger. Am historischen Bahnhof in der Hauptstadt Antananarivo sind die Türen zum Bahnsteig mittlerweile verschlossen. Etliche Strecken sind stillgelegt. Doch im 120 Kilometer entfernten Moramanga wartet das Bahnabenteuer auf den Spuren der Lemuren, den Stars der afrikanischen Insel im Indischen Ozean. Nur hier kann man sie bestaunen, was Naturfans aus der ganzen Welt nach Madagaskar zieht.
Ruckelnd setzt sich der Zug in Bewegung. Großfamilien palavern. Kinder spielen. Die Korbsessel-Sitze in der 1. Klasse sind bequem. Viele der Schienen stammen aus Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte die damalige Kolonialmacht Frankreich das Material aus Reparationszahlungen auf die Insel.
Zweimal in der Woche bummelt ein Zug von Moramanga im Fahrradtempo die 170 Kilometer Richtung Norden nach Ambatondrazaka, die Reiskammer der Insel. Der „Express“stoppt in vielen Dörfern mit Kokospalmen, gackernden Hühnern und Häuschen aus Holz, Fasern oder Stein. Frauen und Kinder drängen um den Zug, verkaufen Bananen, Erdnüsse, Mangos und Getränke.
Gerodete Flächen und Baumstümpfe hinter Moramanga sind wie vielerorts traurige Realität. Bald wird es grüner. Reisfelder bis zum Horizont, Teiche und kleine Flüsse, grüne Hügel. Endstation nach acht Stunden und 45 Minuten. „Ambatondrazaka hat außer Reis auch viel Obstanbau“, erzählt Lea Arilala Razana, die Tourismuschefin der Stadt. Auf den Märkten gibt es fast alle exotischen Früchte dieser Welt: Litschi, Passionsfrucht, Guave und Jackfrucht. Eisenbahnfans verbringen hier oft nur eine Nacht. Denn der Weg, genauer die Fahrt, ist das Ziel. Abfahrt laut Fahrplan ist um 7 Uhr. Doch heute hat die Lok Probleme und startet am frühen Nachmittag. Die Alternative: das Taxi brousse. Der Kleinbus fährt immer los, wenn er voll ist. Auf dem Dach schnattern Enten in einem großen Korb. Auf halber Strecke der Holperund Sandpiste hat dieses Vehikel Probleme mit Keilriemen und Kühlung, kommt abends aber noch lange vor dem Zug in Moramanga an.
Im März 2018 musste die landschaftlich reizvolle Bergund Tal-Strecke von Moramanga über Andasibe nach Tamatave an die Ostküste vorübergehend stillgestellt werden. Sturm, Regenfälle, Erdrutsche haben der Bahntrasse zugesetzt. Eisenbahnfans schwärmen im Internet von den tollen Touren vergangener Jahre.
Der Bahnhof von Andisabe ist leer, bis auf ein paar Kinder, Hühner und Rinder. Neben dem Bahnhofsgebäude in Tamatave
beladen Pousse pousse-Fahrer – so heißt das Pedal-Dreirad – ihr Gefährt mit Kunden und Kisten vom Markt. Doch die Schienen sind verwaist. Nur eine Industriebahn im nahen Hafenviertel fährt.
Auch im Süden zuckelt noch ein Zug, wenn er einsatzbereit ist. Der „Dschungel-Express“passiert von Fianarantsoa nach Manakara an der Ostküste 48 Tunnel und 67 Brücken. Spektakulär! Touristen, die hart im Nehmen sind, äußern sich begeistert, andere sind frustriert. Zehn bis zwölf Stunden soll die 167 Kilometer lange Fahrt dauern. Es können 20 werden. Das ist hart, wenn das Klo nicht funktioniert oder erbärmlich stinkt.