Der Geister-Zug in die Freiheit
Die „Underground Railroad“schleuste Sklaven aus den USA nach Kanada. In Ontario lohnt sich der Besuch in „Onkel Toms Hütte“– eine der Endstationen.
Geradeaus geht’s in den Himmel. So schnurgerade führt die Straße bis zum Horizont, gesäumt vom kilometerlangen Mais-Dschungel, einer unkraut-überwucherten Bahntrasse und windschiefen Holz-Strommasten, die wie XXL-Harken aufragen. Mitten in dieser Einöde ein blaues Schild: „Uncle Tom’s Cabin“. Der Wegweiser zum Titelhelden des Romans „Onkel Toms Hütte“– ein christlich-standhafter Sklave, der von einem Herren zum nächsten verkauft und gepeinigt wird. Erschienen 1852, erreicht das Buch schnell Millionen-Auflagen und löst eine gesellschaftliche Debatte über die Sklaverei aus, vielleicht sogar mehr, denn US-Präsident Abraham Lincoln soll später zur Autorin Harriet Beecher Stowe gesagt haben: „Ach, Sie sind die kleine Frau, die unseren großen Bürgerkrieg entfacht hat…“
Eine abgewetzte Lederausgabe des Weltbestsellers liegt aufgeschlagen gleich am Eingang des kleinen Museums für Onkel Tom. „Der hat hier nie gelebt“, sagt Guide Brenda Lambkin zur Verblüffung ihrer Besucher. „Der wahre Uncle Tom war ein Prediger: Josiah Henson“, erzählt Brenda. Hensons Biographie und Fluchtgeschichte diente der Autorin als Vorbild. Mit prüfendem, aber gütigem Blick mustert der weißhaarige, vollbärtige Josiah Henson die Besucher von einem großformatigen Schwarz-Weiß-Foto. Im Museum ist man sofort mittendrin in seiner Zeit. Eigentum ihrer Herren sind Sklaven damals, sie dürfen nichts selbst entscheiden, werden verheiratet und zu Tode gepeinigt. Etwa mit dem ausgestellten „Speculum Oris“, einem Zirkel-ähnlichen Foltergerät zum Aufsperren des Mundes, um einem hungerstreikenden Sklaven gewaltsam Essen und Wasser einzuflößen, woran diese oft erstickten.
Sklaven stehen auf Verkaufsplakaten – unter den Vieh-Anzeigen. Hier soll auch Josiah Henson erscheinen, um nach New Orleans auf eine Baumwollplantage verkauft zu werden. 1830 flieht er zusammen mit seiner Frau und vier Kleinkindern. Einzige Hoffnung der Familie: Die Nordstaaten der USA, wo die Sklaverei seit 1827 verboten ist, und Kanada, das gelobte Land. Es zu erreichen ist fast nur möglich mit der „Underground Railroad“. Keine unterirdische Eisenbahn, sondern ein Netzwerk mutiger Sklaverei-Gegner in den USA und Kanada, die geflohene Sklaven versteckten und verpflegten, sie bei ihrer weiteren Flucht meist bei Nacht durch unwegsame Wälder führten. „Schaffner“hießen diese Menschen im Geheimcode der „Underground Railroad“, den man im Uncle Tom-Museum heute spielerisch entschlüsseln kann. Er bestand aus Begriffen der sich damals gerade über den amerikanischen Kontinent ausbreitenden Eisenbahn: „Bitte erwarten Sie zwei Kartons Eisenwaren, vier mit Textilien und ein Gepäckstück in ihrem Bahnhof“beispielsweise bedeutete: „Zwei Erwachsene, vier Kinder und ein Baby sind auf dem Weg zu einem schützenden Haus“– oft zu erkennen an einer nachts brennenden Laterne.
Manche Sklaven flüchten als blinde Passagiere: Henry Brown aus Virginia ließ sich vom Schreiner seines Vertrauens eine Holzkiste zimmern und kauerte sich hinein. Einmal zugenagelt, konnte er nur durch zwei unauffällig gebohrte Löcher genügend Luft einatmen. Deklariert als Nahrungsmittel und die meiste Zeit auf dem Kopf rumpelte Brown per richtiger Railroad, also in einem Güterwaggon, in die Freiheit. Eine Nachbildung der Kiste steht einladend im Uncle Tom-Museum: Wer sich mit ganz vor die Brust angezogenen Beinen hineinzwängt und den Deckel drauflegen lässt, bekommt meistens nach einer Minute schon Platzangst – so düster, eng und stickig ist es darin. Ebenso wie in Weinfässern und doppelten Böden von Kutschen – einige weitere, zu besichtigende, mobile Flucht-Verstecke.
Nach sechs Wochen Fußmarsch erreicht Josiah Henson mit seiner Familie am 28. Oktober 1830 die „Haltestelle 100“. Der Underground Railroad-Code für die Endstation, den rettenden kanadischen Boden. Henson küsst ihn innig, kauft wenig später ein kleines Stück dieses Landes, auf dem er sein kleines Holzhaus baut. Es steht als „Onkel Toms Hütte“bis heute hier – mit Ofen, Blechgeschirr und lebensgroßen Puppen des Ehepaars Henson.
Brenda Lambkin erzählt mit leuchtenden Augen, dass Josiah Henson alias Uncle Tom 1841 auf seinem Land, dem Dawn Settlement, quasi Kanadas erste Berufsschule gründet – er nennt es das British-American Institute. Dort lernen geflüchtete Sklaven im 19. Jahrhundert nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch verschiedene Fertigkeiten, mit denen sie später ihr Leben bestreiten können – als Arbeiter in einer Seilerei oder dem Sägewerk. Zwei Walnuss-Schaukelstühle im Museum stammen noch aus dieser Zeit. Holz aus dem Dawn Settlement vermarktet Henson bis nach Großbritannien.
Sein Name und seine Lebensleistung sprechen sich auch dort herum; Königin Victoria lädt ihn 1877 zum Tee und ist so fasziniert von dem Ex-Sklaven, Prediger und Landgut-Manager Josiah Henson, dass sie anlässlich seines Todes eine steinerne Krone nach Ontario schickt. Sie ziert bis heute Josiah Hensons Grabstein auf der Familien-Ruhestätte neben dem Museum.