Der Fluch der Komplexität
Wer gilt als geboostert? Wer als genesen? Und wie lange? Viele haben längst aufgegeben, die x-te Novelle der Corona-Regeln nachzuhalten. Der Widerstand wächst. Die Politik muss dringend eine Exit-Strategie finden.
Mit der rasenden Verbreitung von Omikron hat die Pandemie ihre Zermürbungskapazitäten noch einmal gesteigert: Die CoronaRegeln werden immer komplizierter. Impfdurchbrüche treffen selbst Geboosterte, derweil schwinden Testkapazitäten, und Quarantäneauslegungen werden zur Privatsache. Im Internet kursieren witzige Montagen von Werbetafeln, wie sie vor Kneipen auf dem Bürgersteig stehen. Darauf ist mit Kreide vermerkt, wer gerade als geboostert gilt. Um die Pointe vorwegzunehmen: Die Liste ist sehr lang. Geimpft – genesen – geimpft oder geimpft – geimpft – genesen oder geimpft – geimpft – geimpft samt Verfallzeiten für den jeweiligen Status. Wer soll das noch verstehen? Wer sich merken? Da drängt sich die Frage auf, ob Deutschland gerade den Moment verpasst, vom Verfolgen und Eindämmen einer Seuche auf das Leben mit einer neuen Krankheit umzuschalten.
Immer mehr Menschen reicht es jedenfalls. Auch Leute in der Öffentlichkeit artikulieren ihren Frust. Jüngstes Beispiel ist der Satiriker Serdar Somuncu, bekannt unter anderem aus der ZDF-„Heute-Show“. An seiner in den digitalen Netzwerken verbreiteten Wutrede lässt sich nachvollziehen, was die aktuelle Genervtheitslage gefährlich macht. In seiner professionell pointierten Weise übt Somuncu berechtigte Kritik etwa am Fehlen von Konzepten für die Schulen, am Schweigen des Bundeskanzlers in einer Phase, da nichts wichtiger wäre als Erklären, Vermitteln, Erklären; an einer Politik, die auf „angebliche ultimative Lösungen“setzt statt auf „eine stetige Anpassung der Maßnahmen, gemessen an den Zielen, die wir haben, und den Gefahren, die wir vermeiden wollen“. Und
Somuncu stellt ungemütliche Fragen, etwa die, wie eine Impfpflicht durchgesetzt werden soll, wenn es kein Impfregister gibt – und auch nicht geben soll.
In Wahrheit werden alle diese Punkte allerdings längst diskutiert – und zwar nicht nur auf der Straße und bei „Spaziergängen“, sondern auch von Experten, in den Medien, in der Politik. Kein Grund also, sich als Rächer der Freiheitsberaubten zu inszenieren, über den „Ungesundheitsminister“mit seinen „Drohorgasmen“zu lamentieren und gegen ein vermeintliches „Heer von Meinungsmachern“und „Latentpanikern“zu wüten. Genervt sind alle genug, Wut muss nicht weiter befeuert werden. Auch wenn das einem Comedian süffig aus der Feder fließt.
Doch müsste es dringend darum gehen, vernünftig in eine neue Phase des Umgangs mit Corona zu finden. Ohne zu ignorieren, dass es leider noch immer zu viele Ungeimpfte auch fortgeschrittenen Alters gibt. Doch auch ohne diese Gefahr zu sehr zu dramatisieren, weil das sonst nur noch als Drohung verstanden wird. In dieser Phase sollte es keine „Wenn wir das nicht tun, passiert das“-Aussagen mehr geben. Gerade Verantwortliche, die ihre Entscheidungen begründen müssen, operieren aber weiter damit. Und provozieren immer mehr Abwehr.
Die Pandemiepolitik steckt in manchen Sackgassen, weil sich mit Omikron so viel verändert hat; je weniger polemisch darüber diskutiert wird, desto eher findet das Land hinaus. Was jedoch weiter fehlt, ist eine Exit-Strategie. Und so steckt das Land in der Komplexitätsfalle. Während die Auseinandersetzungen schärfer werden.
Manche Leute steigen da einfach aus, kümmern sich erst um die gerade akuten Regeln, wenn sie vor einem Restaurant, Kino oder Schwimmbad stehen und Papiere vorzeigen sollen. Andere nehmen es weniger pragmatisch. Bei ihnen schwindet die Akzeptanz für die gesamte Corona-Politik, und sie verweigern sich. Oder wüten dagegen: „Ist doch alles ein schlechter Witz!“Da wird der Fluch der Komplexität, in die sich die Corona-Politik manövriert hat, zum gesellschaftlichen Problem.
Zum Teil liegt die wachsende Kompliziertheit natürlich in der Natur der Sache. Mit dem Wissen wächst auch die Differenziertheit im Umgang mit der Pandemie. Seit es etwa Daten darüber gibt, wie schnell die Schutzwirkung nach Erkrankung oder Impfung nachlässt, gibt es Verfallsdaten für den jeweiligen Status. Das entspricht dem Wissensstand, macht aber die Regeln kompliziert.
Hinzu kommt die aktuelle Kurzatmigkeit der Verordnungspolitik. Alle paar Tage Änderungen, das mag den Infektionsverläufen angemessen sein, doch irgendwann fällt es Lehrern schwer, ihren Schülern (und den Eltern) zu vermitteln, warum es heute so und morgen so richtig sein soll. Von denselben Glaubwürdigkeitsschwierigkeiten berichten Sicherheitsleute vor Fitnessstudios oder Geschäften. Hinzu kommt, dass es bei der Akzeptanz der Corona-Regeln um gefühlte Wahrheiten geht. Mag sein, dass etwa der Boosterstatus nicht anders zu definieren ist als in den feinen Abstufungen, die aktuell gelten. Mag auch sein, dass eine Welle wie gerade durch Omikron mit den bestehenden Laborkapazitäten nicht mehr zu meistern ist. Doch muss man kommunizieren, wenn einem der Überblick entgleitet. Über die Akzeptanz der Corona-Politik entscheidet nun mal, ob Menschen in der Mehrheit noch die Sachzwänge sehen und Regeln nachvollziehen können oder neue Erlasse nur noch als Gängelung empfinden.
Deutschland braucht eine Exit-Strategie, die Unwägbarkeiten weder verschweigt noch dramatisiert. Auf der Langstrecke der Pandemie gehen sonst die letzten Geduldskräfte verloren.
Über die Akzeptanz der Politik entscheidet, ob Menschen noch die Sachzwänge sehen