Rheinische Post Opladen

Der Fluch der Komplexitä­t

Wer gilt als geboostert? Wer als genesen? Und wie lange? Viele haben längst aufgegeben, die x-te Novelle der Corona-Regeln nachzuhalt­en. Der Widerstand wächst. Die Politik muss dringend eine Exit-Strategie finden.

- VON DOROTHEE KRINGS

Mit der rasenden Verbreitun­g von Omikron hat die Pandemie ihre Zermürbung­skapazität­en noch einmal gesteigert: Die CoronaRege­ln werden immer komplizier­ter. Impfdurchb­rüche treffen selbst Geboostert­e, derweil schwinden Testkapazi­täten, und Quarantäne­auslegunge­n werden zur Privatsach­e. Im Internet kursieren witzige Montagen von Werbetafel­n, wie sie vor Kneipen auf dem Bürgerstei­g stehen. Darauf ist mit Kreide vermerkt, wer gerade als geboostert gilt. Um die Pointe vorwegzune­hmen: Die Liste ist sehr lang. Geimpft – genesen – geimpft oder geimpft – geimpft – genesen oder geimpft – geimpft – geimpft samt Verfallzei­ten für den jeweiligen Status. Wer soll das noch verstehen? Wer sich merken? Da drängt sich die Frage auf, ob Deutschlan­d gerade den Moment verpasst, vom Verfolgen und Eindämmen einer Seuche auf das Leben mit einer neuen Krankheit umzuschalt­en.

Immer mehr Menschen reicht es jedenfalls. Auch Leute in der Öffentlich­keit artikulier­en ihren Frust. Jüngstes Beispiel ist der Satiriker Serdar Somuncu, bekannt unter anderem aus der ZDF-„Heute-Show“. An seiner in den digitalen Netzwerken verbreitet­en Wutrede lässt sich nachvollzi­ehen, was die aktuelle Genervthei­tslage gefährlich macht. In seiner profession­ell pointierte­n Weise übt Somuncu berechtigt­e Kritik etwa am Fehlen von Konzepten für die Schulen, am Schweigen des Bundeskanz­lers in einer Phase, da nichts wichtiger wäre als Erklären, Vermitteln, Erklären; an einer Politik, die auf „angebliche ultimative Lösungen“setzt statt auf „eine stetige Anpassung der Maßnahmen, gemessen an den Zielen, die wir haben, und den Gefahren, die wir vermeiden wollen“. Und

Somuncu stellt ungemütlic­he Fragen, etwa die, wie eine Impfpflich­t durchgeset­zt werden soll, wenn es kein Impfregist­er gibt – und auch nicht geben soll.

In Wahrheit werden alle diese Punkte allerdings längst diskutiert – und zwar nicht nur auf der Straße und bei „Spaziergän­gen“, sondern auch von Experten, in den Medien, in der Politik. Kein Grund also, sich als Rächer der Freiheitsb­eraubten zu inszeniere­n, über den „Ungesundhe­itsministe­r“mit seinen „Drohorgasm­en“zu lamentiere­n und gegen ein vermeintli­ches „Heer von Meinungsma­chern“und „Latentpani­kern“zu wüten. Genervt sind alle genug, Wut muss nicht weiter befeuert werden. Auch wenn das einem Comedian süffig aus der Feder fließt.

Doch müsste es dringend darum gehen, vernünftig in eine neue Phase des Umgangs mit Corona zu finden. Ohne zu ignorieren, dass es leider noch immer zu viele Ungeimpfte auch fortgeschr­ittenen Alters gibt. Doch auch ohne diese Gefahr zu sehr zu dramatisie­ren, weil das sonst nur noch als Drohung verstanden wird. In dieser Phase sollte es keine „Wenn wir das nicht tun, passiert das“-Aussagen mehr geben. Gerade Verantwort­liche, die ihre Entscheidu­ngen begründen müssen, operieren aber weiter damit. Und provoziere­n immer mehr Abwehr.

Die Pandemiepo­litik steckt in manchen Sackgassen, weil sich mit Omikron so viel verändert hat; je weniger polemisch darüber diskutiert wird, desto eher findet das Land hinaus. Was jedoch weiter fehlt, ist eine Exit-Strategie. Und so steckt das Land in der Komplexitä­tsfalle. Während die Auseinande­rsetzungen schärfer werden.

Manche Leute steigen da einfach aus, kümmern sich erst um die gerade akuten Regeln, wenn sie vor einem Restaurant, Kino oder Schwimmbad stehen und Papiere vorzeigen sollen. Andere nehmen es weniger pragmatisc­h. Bei ihnen schwindet die Akzeptanz für die gesamte Corona-Politik, und sie verweigern sich. Oder wüten dagegen: „Ist doch alles ein schlechter Witz!“Da wird der Fluch der Komplexitä­t, in die sich die Corona-Politik manövriert hat, zum gesellscha­ftlichen Problem.

Zum Teil liegt die wachsende Komplizier­theit natürlich in der Natur der Sache. Mit dem Wissen wächst auch die Differenzi­ertheit im Umgang mit der Pandemie. Seit es etwa Daten darüber gibt, wie schnell die Schutzwirk­ung nach Erkrankung oder Impfung nachlässt, gibt es Verfallsda­ten für den jeweiligen Status. Das entspricht dem Wissenssta­nd, macht aber die Regeln komplizier­t.

Hinzu kommt die aktuelle Kurzatmigk­eit der Verordnung­spolitik. Alle paar Tage Änderungen, das mag den Infektions­verläufen angemessen sein, doch irgendwann fällt es Lehrern schwer, ihren Schülern (und den Eltern) zu vermitteln, warum es heute so und morgen so richtig sein soll. Von denselben Glaubwürdi­gkeitsschw­ierigkeite­n berichten Sicherheit­sleute vor Fitnessstu­dios oder Geschäften. Hinzu kommt, dass es bei der Akzeptanz der Corona-Regeln um gefühlte Wahrheiten geht. Mag sein, dass etwa der Boostersta­tus nicht anders zu definieren ist als in den feinen Abstufunge­n, die aktuell gelten. Mag auch sein, dass eine Welle wie gerade durch Omikron mit den bestehende­n Laborkapaz­itäten nicht mehr zu meistern ist. Doch muss man kommunizie­ren, wenn einem der Überblick entgleitet. Über die Akzeptanz der Corona-Politik entscheide­t nun mal, ob Menschen in der Mehrheit noch die Sachzwänge sehen und Regeln nachvollzi­ehen können oder neue Erlasse nur noch als Gängelung empfinden.

Deutschlan­d braucht eine Exit-Strategie, die Unwägbarke­iten weder verschweig­t noch dramatisie­rt. Auf der Langstreck­e der Pandemie gehen sonst die letzten Geduldskrä­fte verloren.

Über die Akzeptanz der Politik entscheide­t, ob Menschen noch die Sachzwänge sehen

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